Für die Lebenden und für die Toten: Testamente des Spätmittelalters aus der Stadt Bern

Huber Hernández, Ariane; Hesse, Christian; Holenstein, André (2015). Für die Lebenden und für die Toten: Testamente des Spätmittelalters aus der Stadt Bern. (Dissertation, Universität Bern, Philosophisch-historische Fakultät)

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Nichts ist gewisser als der Tod und nichts ungewisser als die Stunde des Todes. Diese Reflexion
über die „conditio humana“ steht in der Einleitung vieler spätmittelalterlicher Testamente. Um
im Falle eines jäh eintreffenden Todes vorgesorgt zu haben, ordneten die Berner - wie ihre
Zeitgenossen in ganz Europa - letztwillige Verfügungen zugunsten der Kirche und karitativer
Einrichtungen an. Diese Massnahmen dienten nicht nur der Förderung des eigenen Seelenheils,
sondern auch jenem von bereits verstorbenen Angehörigen. Die Sorge um die Lebenden
beschäftigte die Erblassenden ebenfalls, denn mithilfe eines Testaments sollte die Verteilung des
Nachlasses nach dem Willen des Erblassers verlaufen und Zwist unter den Erbanwärtern
vermieden werden. Daraus leitet sich die Fragestellung der Dissertation nach den Strategien ab,
die Männer und Frauen bei der testamentarischen Regelung ihrer Hinterlassenschaft verfolgten,
sowie nach den Faktoren, die deren Testierverhalten entscheidend beeinflussten. Die Arbeit
beleuchtet die rechtlichen und sozialen Normen, die die Erblasser bei der Errichtung ihres
Testaments anleiteten. Für ein möglichst differenziertes Ergebnis wird das Testierverhalten der
Erblasser hinsichtlich der Kategorien Geschlecht, Familienstand und sozialer Zugehörigkeit
sowie mit Blick auf deren Besitzverhältnisse und auf den Empfängerkreis untersucht. Dabei
werden auch die Konstanten und Veränderungen im Testierverhalten herausgearbeitet und mit
jenem in anderen Städten des Reiches verglichen. Die Untersuchung positioniert sich an der
Schnittstelle von Schriftlichkeitsforschung, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sowie der
Realienkunde, wobei sie die in den Berner Testamenten aufscheinende Spannbreite von
Aspekten in ihrer Ganzheit berücksichtigt, um ein möglich dichtes Bild der spätmittelalterlichen
Lebenswelt der Testierenden und ihrer Beziehungsnetze nachzuzeichnen und den Prozess des
Testierens in einen breiten gesellschaftlichen Kontext stellen zu können.
Zur Beantwortung der oben formulierten Fragen werden die für die spätmittelalterliche Stadt
Bern seriell vorliegenden Testamente erstmals in grösserem Rahmen systematisch ausgewertet.
Die Arbeit unterzieht die rund 300 heute in den bernischen Archiven greifbaren kopial oder
original überlieferten Testamente einer Kombination von quantifizierender und qualitativer
Analyse. Den Beginn des Untersuchungszeitraums gibt die Überlieferung in den städtischen
Testamentenbüchern vor, die um 1400 einsetzt; das Ende markiert das Jahr 1538 wegen der
unmittelbar anschliessend vorgenommenen Anpassungen des Testier- und Erbrechts im
Rahmen der neuen Stadtsatzung (1539). Damit erstreckt sich die Untersuchung um ein
Jahrzehnt über die bernische Reformation (1528) hinaus.
Die Untersuchung gliedert sich in fünf thematische Blöcke: Zuerst werden die
Überlieferungssituation beleuchtet und die verschiedenen handschriftlichen Quellen einer
ausführlichen Kritik unterzogen. Zentrale Quellen sind neben den erwähnten
Testamentenbüchern die ebenfalls im Staatsarchiv des Kantons Bern aufbewahrten Spruchbücher
des Oberen Gewölbes. Anschliessend zeichnet die Dissertation den Weg zum rechtsgültigen
Testament nach, was unter Berücksichtigung der verschiedenen Akteure, der Verfahrensabläufe
und des anfallenden Schriftguts geschieht. Der grösste Teil der Dissertation setzt schliesslich die
Erforschung der Testierenden, der Legate und der Empfänger (geistliche/karitative
Einrichtungen sowie Einzelpersonen) ins Zentrum. Diese drei Aspekte eines Testaments werden
einerseits isoliert, andererseits ist deren Verbindung zueinander betrachtet.
Die bernische Rechtspraxis und die in diesem Bereich während des Untersuchungszeitraums
noch vergleichsweise schwach entwickelte Verwaltungsorganisation haben im Verhältnis zur Einwohnerzahl wenige Testamente hervorgebracht. Es errichtete hauptsächlich eine
privilegierte Gruppe von Personen ein Testament, die innerhalb der städtischen Bevölkerung
eine Minderheit bildete. Die Hälfte bis zwei Drittel der Testierenden lebte in einem Haushalt,
dessen Vorstand der politischen, sozialen und/oder wirtschaftlichen Führungsschicht von Bern
angehörte. Dabei waren Angehörige der obersten politischen und wirtschaftlichen
Führungsgruppe (Mitglieder des Kleinen Rates) gemessen an der städtischen Bevölkerung
überproportional stark vertreten.
Es lassen sich Einflüsse von Geschlecht, Familienstand und sozialer Zugehörigkeit deutlich in der
Vielfalt und Qualität der vermachten Güter, in der Wahl sowie Anzahl der berücksichtigten
Institutionen und Einzelpersonen respektive in der Breite des bedachten Beziehungsnetzes
ausmachen. Fromme Vergabungen, namentlich zwecks Totengedenkens, spielten vor der
Reformation auch in den bernischen Testamenten eine zentrale Rolle. Verfügt wurde
grösstenteils zugunsten kirchlicher und karitativer Einrichtungen in der Stadt, wobei die im Bau
befindliche Pfarrkirche St. Vinzenz als Begünstigte besonders hervorsticht. Bereits vor der
Einführung der Reformation gingen die Vergabungen an einzelne Institutionen und
Gemeinschaften zurück oder versiegten bereits ganz.
Als wichtigste Verwandtschaftseinheit tritt in den bernischen Testamenten die Kernfamilie
(Witwe/r, Kinder, Enkel) in Erscheinung. Engere Beziehungen gab es zur Familie der
Geschwister, die besonders bei fehlenden ehelichen Kindern das Erbe antraten. Testamente
begünstigen aber auch Stiefkinder und illegitime Nachkommen ohne rechtliche Erbansprüche.
Häufigere Zuwendungen richteten sich ferner an Pflegekinder; patenschaftlichen Beziehungen
wurde ebenfalls testamentarisch Rechnung getragen. Wiederholt dokumentiert ist auch die
persönliche Nähe und enge Beziehung von Dienstherren zu ihren Bediensteten.
Bern zeichnete sich durch eine sehr weitgehende Testierfreiheit für beide Geschlechter aus. Die
Obrigkeit brachte sich zudem erst bei Testamentseröffnung und konkreten Erbzwistigkeiten
aktiv ein. Demnach sind die Berner Testamentenbücher nicht als Instrument obrigkeitlicher
Kontrolle zu verstehen, sondern als Dienstleistung, welche die Nachfrage der Berner nach mehr
Rechtssicherheit bediente. Die erforschten Testamente bieten einen einmaligen Fundus für die
materielle Kultur bernischer Haushalte des ausgehenden Mittelalters. In der Verbreitung
gewisser Kleidungsstücke und Hausratsobjekte über sozial unterschiedlich verortete Haushalte
hinweg bestätigt sich ausserdem die für das Spätmittelalter charakteristische soziale
Durchlässigkeit der bernischen Gesellschaft.
Den modernen Menschen verbindet nicht nur die Unausweichlichkeit des Todes über die
Jahrhunderte mit den Erblassern und Erblasserinnen des Spätmittalters. Auch heute noch
werden Testamente nicht nur für die Lebenden, sondern auch für die Toten geschrieben. Die
Auseinandersetzung mit der Weitergabe des eigenen Besitzes, des zu begünstigenden Kreises
sowie Gedanken darüber, wie wir der Nachwelt in Erinnerung bleiben wollen, stellen ein
zeitungebundenes Phänomen dar, das aufgrund seiner Vielschichtigkeit auch als totales
Phänomen bezeichnet werden kann.

Item Type:

Thesis (Dissertation)

Division/Institute:

06 Faculty of Humanities > Department of History and Archaeology > Institute of History

Subjects:

900 History

Language:

German

Submitter:

Igor Peter Hammer

Date Deposited:

19 Feb 2019 18:01

Last Modified:

23 Oct 2019 15:19

URN:

urn:nbn:ch:bel-bes-3677

Additional Information:

e-Dissertation (edbe)

BORIS DOI:

10.7892/boris.126898

URI:

https://boris.unibe.ch/id/eprint/126898

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