Besseren Nähr- und Siedlungsraum schaffen : die Schweizer Innenkolonisation im Kontext der Ernährungskrise 1917/1918

Burkhard, Daniel (2020). Besseren Nähr- und Siedlungsraum schaffen : die Schweizer Innenkolonisation im Kontext der Ernährungskrise 1917/1918. (Dissertation, Universität Bern, Historisches Institut)

[img]
Preview
Text
20burkhard_d.pdf - Published Version
Available under License Creative Commons: Attribution-Noncommercial-No Derivative Works (CC-BY-NC-ND).

Download (26MB) | Preview

In der zweiten Hälfte des Ersten Weltkrieges sah sich die Schweizer Bevölkerung mit einer Ernährungskrise konfrontiert. Besonders in den stark gewachsenen Städten wurden Nahrungsmittel knapp und waren für die Lohnempfänger teuer zu erstehen. Die Situation führte zu sozialpolitischen Verwerfungen und brachte das Land an den Rand eines gesellschaftlichen Kollapses. Es war das Ziel der Dissertation, die Ursprünge dieser Ernährungskrise darzustellen und dabei die im Moment der Krise angedachten Überwindungs- und Lösungsstrategien zu identifizieren und vorzustellen. In einem ersten Teil, welcher die soziale Frage und die Agrarfrage vor 1914 in den Blick nimmt, wird herausgearbeitet, wie die Industrialisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts in den verdichteten Schweizer Städten zivilisationskritische Haltungen hervorgebracht hatten, die in dem Bedürfnis nach einer Harmonisierung von Stadt und Land resultierten. Dabei erfreute sich auch in der Schweiz das englische Konzept der Gartenstadt grosser Beliebtheit. Die Landwirtschaft ihrerseits verlor Arbeitskräfte an die Städte, wurde im Zuge der Industrialisierung modernisiert und rationalisiert und an einer globalen, arbeitsteiligen Marktlogik ausgerichtet. Die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln fusste um 1900 auf einem funktionierenden globalen Handelssystem. Im zweiten Teil der Arbeit werden die kriegs- wirtschaftlichen Anpassungen im Hinblick auf die Ernährungsversorgung thematisiert. Während in den Jahren 1914–1916 ein komplexes Kompensationssystem mit den kriegführenden Mächten ausgehandelt werden konnte, was die Aufrechterhaltung des Handels auch in Kriegszeiten ermöglicht hatte, bekam diese Versorgungsstrategie in den Jahren 1916 – 1918 aufgrund einer Verschärfung des Wirtschaftskrieges und witterungsbedingten Missernten immer tiefere Risse. In den Jahren 1917 und 1918 sah sich die Schweizer Bevölkerung schliesslich einem Mangel an Lebensmitteln gegenüber. Die Behörden waren überrascht ob dieser Entwicklung und wurden von der krisenhaften Zuspitzung zu einem ad-hoc Handeln gezwungen. Ab 1917 rückte die Ausweitung der Inlandsversorgung in den Fokus der Versorgungspolitik. Die Nahrungsmittelknappheit führte zudem zu einer starken Zunahme an sozialpolitischen Spannungen. In den letzten beiden Kriegsjahren wurde deutlich, dass die volkswirtschaftliche Stabilität der Schweiz aus den Fugen geraten war und es setzte eine Suche nach einer entsprechenden Korrektur ein. Während der Ausbau des inländischen Nahrungsmittelanbaus als Sofortmassnahme propagiert wurde, erdachten einzelne Akteure längerfristige Massnahmen, um die Bedürfnisse einer Industriegesellschaft mit den Produktionsmöglichkeiten der Landwirtschaft besser koordinieren zu können. Von dieser Suche nach einer neuen Ordnung ist im dritten Teil der Arbeit die Rede. Geoarchitekten, Industrielle, Agronomen, Konsumentenvertreter, Bäuerinnen und linke Siedlungsenthusiasten entwarfen Ansätze zur Neuordnung der Beziehung von Industrie und Landwirtschaft, von Stadt und Land, von Konsumenten und Produzenten. In einer Verschmelzung von sozialer Frage und Agrar- frage wurden vielerlei komplementäre Ansätze zur nachhaltigen Ausgestaltung der Ernährungsfrage in einer Industriegesellschaft vorgeschlagen. Am umfassendsten war schliesslich das Projekt der Innenkolonisation, das von der Schweizerischen Vereinigung für Industrielle Landwirtschaft und Innenkolonisation (SVIL) angedacht worden war und durch eine Verschränkung der Siedlungsplanung und des Meliorationswesens eine frühe Form der Raumplanung zu realisieren beabsichtigte. Um das zentrale Konzept der Innenkolonisation besser in seinem internationalen und zeit- geistlichen Kontext verorten zu können, werden in einem vierten Kontextteil verwandte Projekte aus den Niederlanden, Italien und dem Deutschen Reich, insbesondere aus Preussen, vorgestellt. Es wird dabei ersichtlich, dass das Phänomen der Innenkolonisation in der Zeit zwischen 1880 und 1930 unterschiedlichste Erscheinungsformen annahm. Die Schweizer Innenkolonisation kann dabei als weiteres Fallbeispiel eines internationalen Phänomens zur Ausgestaltung der Beziehung von Industrie und Landwirtschaft in modernen Gesellschaften erachtet werden. Entsprechend wird im fünften und letzten Teil die Innenkolonisation in der Schweiz unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg im Kontext der Ernährungskrise besprochen und dabei auch die langfristigen Lösungsansätze der SVIL zur besseren Schaffung von Nähr- und Siedlungsraum thematisiert. Dabei werden die zentralen Topoi der Innenkolonisation nach deren Fürsprecher Hans Bernhard sowie deren versuchte Institutionalisierung diskutiert und schliesslich im Hinblick auf ihre langfristige Wirksamkeit im Rahmen der schweizerischen Agrar- und Versorgungspolitik verortet. Der Arbeit liegen primär ein breites Korpus an qualitativen Quellen (Jahresberichte, Protokolle, Propagandaschriften, Zeitungsartikel) sowie eine für die Erschliessung der jeweiligen Kontexte unerlässliche breite Auswahl an Sekundärliteratur zugrunde. Es bestand für die Arbeit die Gefahr, durch die thematische Breite inhaltlich zu breit zu mäandrieren. Dieser Gefahr wurde durch die theoretische Ausrichtung am Konzept des social engineering nach Thomas Etzemüller entgegenzuwirken versucht. Die theoretischen Grundlagen Etzemüllers wurden als Leitfaden zur Analyse der einzelnen Zwischenschritte genutzt, um der Arbeit die nötige Stringenz zu verliehen. So kann das Konzept der Innenkolonisation als Fallbeispiel in einem internationalen Kontext in der Zeit einer krisenhaften Moderne verortet werden, gleichzeitig aber finden auch die offenen und dennoch interventionistischen Lösungsansätze zur Krisenüberwindung Eingang in die Analyse.

Item Type:

Thesis (Dissertation)

Division/Institute:

06 Faculty of Humanities > Department of History and Archaeology > Institute of History > Economic, Social and Environmental History

UniBE Contributor:

Burkhard, Daniel (B)

Subjects:

900 History
900 History > 940 History of Europe

Language:

German

Submitter:

Daniel Burkhard

Date Deposited:

08 Dec 2021 13:05

Last Modified:

22 Apr 2023 23:46

BORIS DOI:

10.48350/161848

URI:

https://boris.unibe.ch/id/eprint/161848

Actions (login required)

Edit item Edit item
Provide Feedback