Die Enquête von Willems: ein verborgener Schatz der Dialektologie des Deutschen. Erschließung und Neuauswertungen

Pheiff, Jeffrey (15 December 2021). Die Enquête von Willems: ein verborgener Schatz der Dialektologie des Deutschen. Erschließung und Neuauswertungen (Unpublished). In: Linguistisches Kolloquium. Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas. Philipps-Universität Marburg. 15.12.2021.

1885 wurde eine Fragebogenerhebung von Pieter Willems durchgeführt. Die sog. Enquête von Willems stellt eine der ältesten dialektologischen Fragebogenerhebungen dar. Dabei wurden Ortsdialekte in den Niederlanden, Belgien, Frankreich, Luxemburg sowie im damaligen Deutschen Reich dokumentiert. Von den 349 eingegangenen Fragebogen stammen 59 aus Orten im heutigen bundesdeutschen Staatsgebiet. Dieser Fragebogen ist besonders interessant, weil er über 15.000 Abfrageitems umfasst (Goossens 1989) und damit viel Potenzial für Fragestellungen im Bereich der Dialektmorphologie und -syntax.
Während Willems Fragebogenaktion zum Handbuchwissen in der niederlandistischen Variationslinguistik gehört (z.B. Gerritsen 2001: 1539–1540), ist sie hingegen in der Germanistik (fast) nicht bekannt. Im Rahmen dieses Vortrags wird der Versuch unternommen, "über dieses in deutschen Dialektologenkreisen bisher fast unbekannte Unternehmen [zu] berichten und seine Bedeutung für die niederrheinische Mundartforschung [zu] verdeutlichen" (Goossens 1985: 48). Im ersten Teil des Vortrags wird die Erhebung aus forschungsgeschichtlicher Perspektive beleuchtet und auf Probleme der Datengrundlage eingegangen. Im zweiten Teil werden die Ergebnisse zweier Fallstudien zur Femininmovierung und Negationskongruenz präsentiert, um just zwei Perspektiven zur Erforschung der Morphologie und Syntax der rezenten Dialekte anhand dieser bisher kaum beachteten Materialquelle aufzuzeigen.
In der ersten Fallstudie wird die funktionale Movierung bei 12 Substantiven untersucht. Die Verbreitung der Movierungsallomorphe variiert räumlich und lexembezogen: {sche} dominiert im Süden, {ster} im Niederfränkischen. Die Variante {in} lässt sich im Niederfränkischen sowie im Raum südlich davon beobachten, aber jeweils in unterschiedlichen Lexemen. Die Studie zeigt erstmals die raumbezogene Movierungsallomorphie für diesen Teil des Westmitteldeutschen. In der zweiten Fallstudie geht es um die zweigliedrige Negation mit en... nicht, welche sich im Westmitteldeutschen bis in die frühneuhochdeutsche Periode hineingehalten hat (Fleischer & Schallert 2011: 232). Nach Münch (1904: 192) ist die Variante sogar in rezenten westmitteldeutschen Dialekten belegt. Fleischer (2017) konnte allerdings keine Evidenz dafür bei seiner Auswertung von Wenkersätzen finden. Im Fragebuch von Willems werden Gewährspersonen gefragt: "Wordt in de volkstaal de ontkenning gewoonlijk vergezeld van en: b.v. ik en zeg dat niet?". Es zeigt sich, dass Ende des 19. Jahrhunderts die zweigliedrige Negation im Westen des Ripuarischen und Niederfränkischen verbreitet war. Damit liegt erstmals Evidenz für die diatopische Verbreitung dieser Variante in den rezenten Dialekten des Deutschen vor. Darüber hinaus wird anhand einer Analyse metasprachlicher Äußerungen gezeigt, dass die Variante en...nicht verhältnismäßig selten, grammatisch beschränkt und tendenziell eher von älteren Personen genutzt wird: diese Beobachtungen lassen auf einen diachronen Wandel schließen, bei dem die zweigliedrige Negation dabei war, abgebaut zu werden. Dieser Prozess ist vermutlich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgeschlossen.

Item Type:

Conference or Workshop Item (Speech)

Division/Institute:

06 Faculty of Humanities > Department of Linguistics and Literary Studies > Institute of Germanic Languages

UniBE Contributor:

Pheiff, Jeffrey Alan

Subjects:

400 Language > 410 Linguistics
400 Language > 430 German & related languages

Language:

German

Submitter:

Jeffrey Alan Pheiff

Date Deposited:

17 Mar 2022 04:07

Last Modified:

05 Dec 2022 16:10

URI:

https://boris.unibe.ch/id/eprint/166068

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