Textgrammatische Funktionen von -selb-Anadeiktika

Kempf, Luise (23 March 2022). Textgrammatische Funktionen von -selb-Anadeiktika (Unpublished). In: Von der Oberfläche zum Muster: Quantitative und qualitative Methoden zur Erhebung von Textmustern. Paderborn. 22.-23.3.2022.

Textgrammatische Funktionen von -selb-Anadeiktika
In Texten der frühen Neuzeit kommen bestimmte wiederaufgreifende Einheiten zum Einsatz, die wir heute so nicht mehr verwenden: einerseits partizipiale Formen wie (ob-)gedacht-, -gemelt- (v.a. zu Rückverweisen über grössere Distanz), andererseits Formen mit dem Kern -selb- (dieselbe, selbiger X; zu proximalen Rückverweisen). Beide können als Anadeiktika gefasst werden, da sie zuvor Genanntes anaphorisch aufgreifen und dabei (mehr oder minder explizite) textdeiktische Züge aufweisen.
Der Beitrag gilt den Elementen des -selb-Typs. In der bisherigen Forschung werden diese Formen an mehreren Stellen kurz thematisiert (z.B. GLONING 1996: 151, VON POLENZ 22013: 401, SCHUSTER/WILLE 2015: 14). Zum zentralen Gegenstand gehören sie in einigen Studien ausgewählter Texte oder Textsorten (z.B. LEFÈVRE 2005, 2008, PASQUES 2008, SCHNEIDER-MIZONY 2008).
In KEMPF (2020) werden sie anhand des GerManC-Korpus (1650–1800) und flankierend anhand des DTA untersucht. Die quantitative Analyse ergibt den Rückgang in der zweiten Hälfte des 18. Jh. sowie die frequentielle Variation zwischen Regionen einerseits und Textsorten andererseits. Die qualitative Analyse untersucht die textgrammatischen Funktionen in verschiedenen Textsorten und zu verschiedenen Zeitpunkten. Grob zusammengefasst dienen die selb-Anadeiktika im 17. Jh. der Textgliederung, weiten sich im 18. Jh. funktional aus und zeigen Ansätze einer Grammatikalisierung zum Definitartikel. Diese bricht jedoch ab. Interessanterweise kommt selbst die anadeiktisch-textgliedernde Funktion zum Erliegen und die -selb-Formen ziehen sich zurück in die semantische Domäne ihres Quelllexems, nämlich die Bedeutung ‚Identität‘. Da die partizipialen Formen (-gedacht-, -gemelt-) ebenfalls ausser Gebrauch geraten (und auch mit dem Typus oben genannt keinen frequentiell ebenbürtigen Nachfolger erhalten), lässt sich feststellen, dass die Wiederaufnahme mittels Anadeiktika insgesamt stark geschwunden ist. In KEMPF (2020) wird argumentiert, dass dies mit einem grundlegenden Wandel von einer eher pragmatischen zu einer stärker grammatischen Textgestaltung einhergeht – welcher wiederum grössere soziohistorische und soziolinguistische Wandelprozesse, wie etwa den zunehmenden allgemeinen Schriftsprachgebrauch, widerspiegelt.
Der vorliegende Beitrag nutzt das t.evo-Teilkorpus Erbauungsliteratur, um die Analyse des GerManC-Korpus zu validieren und sie um die erste Hälfte des 17. Jh. zu erweitern. Die Gebrauchsfrequenzen liegen im t.evo-Teilkorpus niedriger als im GerManC, aber ähnlich hoch wie bspw. im DTA-Teilkorpus Belletristik. Eine qualitative Analyse soll u.a. eventuelle funktionale Unterschiede zwischen Erbauungsbüchern und Leichenpredigten ermitteln.
Anknüpfpunkte zu dem im t.evo-Projekt entwickelten Textmustermodell bieten sich insbesondere mit Blick auf die Beziehungsdimension, nämlich indem Anadeiktika als Formen der Verständnissicherung und Aufmerksamkeitssteuerung betrachtet werden können. In ihnen ist der Produzent durch die implizite Zeigegeste noch sichtbar (LEFÈVRE 2008: 306), was bei den später favorisierten anaphorischen Formen (der, er, dieser) nicht mehr der Fall ist.
Referenzen
Gloning, Thomas (1996): Bestandsaufnahme zum Untersuchungsbereich „Wortschatz“, in: Gerd Fritz – Erich Straßner (Hgg.), Die Sprache der ersten deutschen Wochenzeitungen im 17. Jahrhundert, Medien in Forschung und Unterricht. Serie A 41, Tübingen, 141–195.
Kempf, Luise (2020): Verloren im Wandel der Textgestaltung: Funktionen, Grammatikalisierung und Schwund der -selb-Anadeiktika. In: Delphine Pasques & Claudia Wich-Reif (Hgg.): Textkohärenz und Gesamtsatzstrukturen in der Geschichte der deutschen und französischen Sprache vom 8. bis zum 18. Jahrhundert. Akten zum Internationalen Kongress an der Universität Paris-Sorbonne vom 15. bis 17. November 2018, Berliner Sprachwissenschaftliche Studien 35. Berlin, 417–444.
Lefèvre, Michel (2005): Anaphorika in der deutschen Sprache des 17. Jahrhunderts. Am Beispiel der Trauerspiele von Andreas Gryphius, in: Franz Simmler – Claudia Wich-Reif (Hgg.), Syntax, Althochdeutsch - Mittelhochdeutsch. Eine Gegenüberstellung von Metrik und Prosa ; Akten zum internationalen Kongress an der Freien Universität Berlin 26. bis 29. Mai 2004, Berliner sprachwissenschaftliche Studien 7, Berlin, 223–241.
Lefèvre, Michel (2008): Kontrastive Untersuchung zu (d-)selb(ig)- und anderen Einheiten des Wiederaufgreifens im 17. Jahrhundert. Ein systemischer Ansatz, in: Yvon Desportes (Hg.), Die Formen der Wiederaufnahme im älteren Deutsch. Akten zum internationalen Kongress an der Université Paris Sorbonne (Paris IV), 8. bis 10. Juni 2006, Berliner sprachwissenschaftliche Studien 10, Berlin, 289–306.
Pasques, Delphine (2008): Funktionen von selb-/selbig- in anaphorischen Nominalgruppen (untersucht in Mandevilles Reisen, 1480), in: Yvon Desportes (Hg.), Die Formen der Wiederaufnahme im älteren Deutsch. Akten zum internationalen Kongress an der Université Paris Sorbonne (Paris IV), 8. bis 10. Juni 2006, Berliner sprachwissenschaftliche Studien 10, Berlin, 307–324.
Polenz, Peter von (2013): Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Band II: 17. und 18. Jahrhundert, 2, Berlin u.a.
Schneider-Mizony, Odile (2008): Indirekte Anapher und nominale Ketten in einer Reisebeschreibung des 16. Jahrhunderts, in: Yvon Desportes (Hg.), Die Formen der Wiederaufnahme im älteren Deutsch. Akten zum internationalen Kongress an der Université Paris Sorbonne (Paris IV), 8. bis 10. Juni 2006, Berliner sprachwissenschaftliche Studien 10, Berlin, 345–361.
Schuster, Britt-Marie/Wille, Manuel (2015): Von der Kanzlei- zur Bürgersprache? Textsortengeschichtliche Betrachtungen zur >Staats- und Gelehrten Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten< im 18. Jahrhundert. Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 17, 7–29.

Item Type:

Conference or Workshop Item (Speech)

Division/Institute:

06 Faculty of Humanities > Department of Linguistics and Literary Studies > Institute of Germanic Languages
06 Faculty of Humanities > Other Institutions > Walter Benjamin Kolleg (WBKolleg) > Center for the Study of Language and Society (CSLS)

UniBE Contributor:

Kempf, Luise

Subjects:

400 Language > 410 Linguistics
400 Language > 430 German & related languages
800 Literature, rhetoric & criticism > 830 German & related literatures

Language:

German

Submitter:

Dietlinde Luise Kempf

Date Deposited:

21 Apr 2022 10:55

Last Modified:

05 Dec 2022 16:17

URI:

https://boris.unibe.ch/id/eprint/168259

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