Erklärt der Sprachliche Markt die Variation im gesprochenen Standard in der Deutschschweiz?

Britain, David; Büchler, Andrin; Bülow, Lars (6 July 2022). Erklärt der Sprachliche Markt die Variation im gesprochenen Standard in der Deutschschweiz? (Unpublished). In: 7. Kongress der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD). Paris Lodron Universität Salzburg. 06.–08.07.2022.

Als wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Wechselwirkung von Sprache und Gesellschaft beschäftigt, nimmt die Soziolinguistik seit jeher auch zentrale Konzepte und Theorien aus der Soziologie wahr. Von daher darf es nicht verwundern, dass Sankoff/Laberge (1978) in den 1970er Jahren Bourdieus Konzept des Sprachlichen Markts (marché linguistique; vgl. Bourdieu/Boltanski 1975) für die empirische Beschreibung der sprachlichen Situation in Montreal (Kanada) operationalisiert haben. Dazu haben sie einen Index verwendet, der darauf beruht „how speakers’ economic activity, taken in its widest sense, requires or is necessarily associated with, competence in the legitimized language (or standard, elite, educated, etc., language)“ (Sankoff/Laberge 1978: 239). Obwohl das Modell das Variationsverhalten der Sprecher*innen in Montreal besser erklärt als die traditionellen soziolinguistischen Faktoren (Sankoff et al. 1989), gibt es bisher kaum empirische Arbeiten, in denen das Konzept des Sprachlichen Markts als Variable in statistischen Tests auf seine Signifikanz geprüft wird. Vielmehr wird das Konzept des Sprachlichen Markts häufig lediglich als post-hoc-Erklärung herangezogen, um Abweichungen in den Daten zu plausibilisieren (vgl. z. B. Buchstaller 2015; Rickford/Price 2013).
Unser Beitrag legt den Fokus sowohl auf die Operationalisierung des Sprachlichen Markts als auch auf die Frage, inwiefern sich mithilfe des Konzepts die Variation im gesprochenen Standard in der Deutschschweiz erklären lässt. Konkret wird überprüft, welchen Einfluss der Sprachliche Markt – neben dem Bildungsgrad (tertiär vs. sekundär), dem Geschlecht (männlich vs. weiblich), der Situationalität der Sprachproduktionsaufgabe (normorientiert vs. verständigungsorientiert) und innersprachlichen Faktoren – auf die Variation hat. Sprachlichen Markt operationalisieren wir dabei als Variable (= Markt Index), die wir mit Hilfe von Likert-Skalen zu Spracheinstellungen und -einschätzungen definieren. In Anlehnung an Bourdieu beschreibt der Sprachliche Markt Index hier folglich die Bedeutung, die der Sprachgebrauch für die Sprecher*innen vor allem im Berufs- aber auch im Privatleben darstellt.
Im Kontext der Studie wurden verschiedene Sprachproduktionsdaten (Vorleseaufgaben, Übersetzungsaufgabe, freies Gespräch) im Umfang von ca. 20 Minuten von 16 Gewährspersonen aus der Stadt Biel (Kanton Bern) aufgenommen und ausgewertet. In der Analyse konzentrieren wir uns auf die Variablen (k), (ç), (aː) und (ɛ), für die im gesprochenen Gebrauchsstandard der Deutschschweiz bereits mehrfach Variation nachgewiesen wurde (vgl. z. B. Hove 2002, 2008a; Christen et al. 2010; Guntern 2012). Während in unserer Untersuchung innersprachliche Faktoren nur wenig Einfluss zu nehmen scheinen, zeigen die Resultate, dass nebst Bildungsgrad der Gewährspersonen und Gender vor allem der Sprachliche Markt einen robusten Erklärungsfaktor für die Variation in den Daten darstellt. Im Vergleich zu Personen mit einem hohen Markt-Index verwenden Personen mit einem niedrigen Markt-Index bei allen getesteten Variablen signifikant häufiger die Varianten ([kx], [x], [ɑː], [æ]), die ein „soziolinguistisches Stereotyp“ (Christen 2008) für den Gebrauchsstandard in der Deutschschweiz bilden.
In unserem Beitrag zeigen wir damit, dass sich das Konzept des Sprachlichen Markts ideal dafür eignet, objektive Daten unter dem Gesichtspunkt von subjektiven Daten zu Spracheinstellungen zu analysieren, um das Variationsverhalten der Personen im Sample besser erklären zu können. Wir werden außerdem dafür argumentieren, dass unsere Operationalisierung des Sprachlichen Markts insbesondere für solche diglossischen Sprachsituationen hilfreich ist, in denen der Standard (im Vergleich zum Dialekt bzw. Non-Standard) im Alltag eine eher untergeordnete Rolle spielt.

Keywords: Variationslinguistik, gesprochener Standard in der Deutschschweiz, Sprachlicher Markt

Literatur
Bourdieu, Pierre/Boltanski, Luc (1975): Le fétichisme de la langue. Actes de la recherche en sciences sociales 4: 2–32.
Buchstaller, Isabelle (2015): Exploring linguistic malleability across the life span: Age-specific patterns in quotative use. Language in Society 44: 457–496.
Christen, Helen (2008): Gesprochene Standardsprache im Deutschschweizer Alltag. Schlussbericht des Nationalen Forschungsprogramms (NFP 56).
Christen, Helen/Guntern, Manuela/Hove, Ingrid/Petkova, Marina (2010): Hochdeutsch in aller Munde: Eine empirische Untersuchung zur gesprochenen Standardsprache in der Deutschschweiz. Stuttgart: Steiner.
Guntern, Manuela (2012): Dialekt und gesprochene Standardsprache: Wie Laien gesprochenes Schweizerhochdeutsch beurteilen. Sociolinguistica 26/1: 102–119.
Hove, Ingrid (2002): Die Aussprache der Standardsprache in der deutschen Schweiz. Tübingen: Niemeyer.
Hove, Ingrid (2008): Zur Unterscheidung des Schweizerdeutschen und der (schweizerischen) Standardsprache. In: Christen, Helen/Ziegler, Evelyn (eds.): Sprechen, Schreiben, Hören: Zur Produktion und Perzeption von Dialekt und Standardsprache zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Wien, Praesens: 63–82.
Rickford, John/Price, Mackenzie (2013): Girlz II women: Age-grading, language change, and stylistic variation. Journal of Sociolinguistics 17/2: 143–179.
Sankoff, David/Laberge, Suzanne (1978): The linguistic market and the statistical explanation of variability. In: Sankoff, David (ed.): Linguistic variation. Models and methods. New York/San Francisco/London, Academic Press: 239–250.
Sankoff, David/Cedergren, Henrietta J./Kemp, William/Thibault, Pierre/Vincent, Diane (1989): Montreal French: Language, Class, and Ideology. In: Fasold, Ralph W./Schiffrin, Deborah (eds.): Language Change and Variation. Amsterdam, Benjamins: 107–118.

Item Type:

Conference or Workshop Item (Speech)

Division/Institute:

06 Faculty of Humanities > Department of Linguistics and Literary Studies > Institute of English Languages and Literatures
06 Faculty of Humanities > Department of Linguistics and Literary Studies > Institute of Germanic Languages
06 Faculty of Humanities > Other Institutions > Walter Benjamin Kolleg (WBKolleg) > Center for the Study of Language and Society (CSLS)

Graduate School:

Graduate School of the Arts and Humanities (GSAH)

UniBE Contributor:

Britain, David, Büchler, Andrin, Bülow, Lars

Subjects:

400 Language
300 Social sciences, sociology & anthropology
400 Language > 410 Linguistics
400 Language > 430 German & related languages

Language:

German

Submitter:

Andrin Büchler

Date Deposited:

26 Jul 2022 13:41

Last Modified:

05 Dec 2022 16:22

URI:

https://boris.unibe.ch/id/eprint/171544

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