Eibach, Joachim (2021). Fortschritt und Indianer: Geschichte und historisches Denken bei Alexander von Humboldt. In: Bloch, Sara Kviat; Lubrich, Oliver; Steinke, Hubert (eds.) Alexander von Humboldt: Wissenschaften zusammendenken. Berner Universitätsschriften: Vol. 62 (pp. 279-299). Bern: Bern Open Publishing
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In seinem berühmten Werk Ansichten der Natur (1808) lässt Alexander von Humboldt seine Leserinnen und Leser wie Wanderer durch die südamerikanische Steppe der Llanos schreiten. In mancher Hinsicht ist es ein typischer Humboldt-Text. Exakte Ausführungen zur Geologie, Fauna und Flora wechseln sich ab mit ästhetischen, mitunter sinnlichen Naturbildern im Stil der Romantik. Dazu werden schon nach wenigen Zeilen vergleichende Reflexionen über Steppen- und Wüstenlandschaften in verschiedenen Weltteilen geboten: die Llanos im heutigen Venezuela, die Heidelandschaft in Nordeuropa, die Sahara in Nordafrika. Für Humboldt sind die Steppen und Wüsten keineswegs öde Flächen ohne Leben. So finden sich in der Sahara die nomadischen Völker der Tibbos und der Tuaryks (Tuaregs). Zwischen den Oasen von Marokko und Timbuktu im heutigen Mali gebe es «Handelsverkehr seit Jahrtausenden». Und dieser Handelsverkehr basiere nicht zuletzt, so Humboldt, auf der «Existenz des Kameels [...], des Schiffs der Wüste, wie es die alten Sagen der Ostwelt nennen». Diese kurze und eigentlich abseitige Bemerkung – in den Llanos von Venezuela gibt es keine Kamele – führt Humboldt zu einer Annotation in Form einer Endnote im Umfang von vier Seiten. In dieser langen Erläuterung erhält der Leser weit ausholende Informationen zur Bedeutung und zur Geschichte des Kamels. Einige verstreute Bemerkungen aus dem Kontext der Argumentation Humboldts lauten: Das Kamel sei «die Hauptbedingung des nomadischen Völkerlebens auf der Stufe patriarchalischer Völkerentwicklung in den heißen regenlosen oder sehr regenarmen Länderstrichen unseres Planeten.» In der Antike allerdings war «[d]em Culturvolk der Carthager [...] das Kameel durch alle Jahrhunderte seiner blühendsten Existenz bis zum Untergange des Handelsstaates völlig unbekannt». Auch: «Die Guanschen, Bewohner der canarischen Inseln, wahrscheinlich dem Berberstamme verwandt, kannten die Kameele nicht vor dem 15ten Jahrhunderte.» Aber: «Die Gothen brachten Kameele schon im vierten Jahrhunderte an den unteren Istros (Donau).» Mit Blick auf die Geschichte Afrikas: «In der Verbreitung durch den afrikanischen Continent muß man zwei Epochen unterscheiden: die der Lagiden [3. Jahrhundert v. Chr.] [...] und die mohammedanische Epoche, der erobernden Araber.» Für Asien gilt: «Die Hiongnu im östlichen Asien» hätten frühzeitig «die wilden Kameele zu Hausthieren gezähmt.» Und zuletzt, so berichtet Humboldt 1849, wurden «[a]us Teneriffa [...] ganz neuerlich erst 40 Kameele auf Java eingeführt.» Dies ist ein großes Panorama in wenigen Sätzen. Aus den «Erläuterungen und Zusätzen» zu einer kleinen Bemerkung im Haupttext der Ansichten der Natur erfahren wir viel über die Arbeits- und Denkweise Alexander von Humboldts. Mit Blick auf dieses erste Beispiel lässt sich bereits Folgendes festhalten: Erstens, Humboldt geht es in Texten, die prima facie Phänomene der Natur behandeln, immer wieder auch um menschliche Kultur und Wechselwirkungen zwischen Natur (hier: Landschaft und Tier) und Kultur. Zweitens, die Dinge werden nicht isoliert betrachtet. Jeder Aspekt – zum Beispiel das Kamel als Transportmittel in Steppen und Wüsten – kann auch historisch gesehen beziehungsweise in einen historischen Kontext eingebettet werden. Drittens, Humboldt stellt mittels eigener Beobachtungen auf seinen Reisen und anhand der zur Verfügung stehenden Forschungsliteratur weit ausholende Vergleiche an und denkt global komparativ: «In allen Zonen», so Humboldt, «bietet die Natur das Phänomen dieser großen Ebenen dar; in jeder haben sie einen eigenthümlichen Charakter, eine Physiognomie». Die Möglichkeit traversierender Handelswege aber beruht «auf der Existenz des Kameels». Unabhängig von der Kulturzone ist die Geschichte von Mensch, Natur und Tier miteinander verknüpft. War Humboldt nicht nur Natur- und Sozialforscher, sondern auch ein Historiker? Die Antwort liegt nahe und zeichnet sich ab. Historische Perspektiven im Denken Humboldts dürfen nicht übersehen werden. Und so ist auch gleich noch ein vierter Aspekt hinzuzufügen. Wir verstehen die im 19. Jahrhundert dominante Richtung des historischen Denkens, den Historismus, im Allgemeinen als eine Politikgeschichte der «Haupt- und Staatsaktionen» der «großen Männer». Im erwähnten Beispiel geht es aber offensichtlich nicht um die Res gestae «der Großen». Es geht nicht um einen Alexander, Karl, Friedrich oder Napoleon. Es geht stattdessen um Kamele! Dies mag vielleicht abseitig erscheinen, ist aber gerade heute bemerkenswert und absolut trendy. Denn aktuell erleben in den Geisteswissenschaften die sogenannten animal studies einen Aufschwung. Auch in der Geschichtswissenschaft werden seit einigen Jahren Publikationen vorgelegt, in denen es zentral um die Geschichte von Mensch-Tier-Beziehungen geht. Im Folgenden soll zunächst versucht werden, den Historiker Humboldt historiographisch und ideengeschichtlich zu kontextualisieren. Im zweiten und dritten Teil wird Humboldts Werk auf Anknüpfungspunkte aus kultur- und globalhistorischer Sicht hin durchleuchtet.
Item Type: |
Book Section (Book Chapter) |
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Division/Institute: |
06 Faculty of Humanities > Department of History and Archaeology > Institute of History > Recent History |
UniBE Contributor: |
Eibach, Joachim |
Subjects: |
500 Science > 570 Life sciences; biology 900 History > 910 Geography & travel |
ISSN: |
2673-7744 |
ISBN: |
978-3-258-08159-5 |
Series: |
Berner Universitätsschriften |
Publisher: |
Bern Open Publishing |
Language: |
German |
Submitter: |
Keith Cann-Guthauser |
Date Deposited: |
01 Sep 2022 11:56 |
Last Modified: |
05 Dec 2022 16:23 |
BORIS DOI: |
10.48350/172307 |
URI: |
https://boris.unibe.ch/id/eprint/172307 |