Geschichte der Flora des bernischen Hügellandes zwischen Alpen und Jura

Rytz, Walther (1913). Geschichte der Flora des bernischen Hügellandes zwischen Alpen und Jura. Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft Bern, 1912, pp. 53-221. Naturforschende Gesellschaft Bern

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Zusammenfassung der Resultate über die Florengeschichte
1. Der relativ grosse Artenreichtum (rund 1300 Species) unseres bernischen Hügellandes rührt zu einem Teil von der Mannigfaltigkeit der Standorte, zum andern Teil aber von den klimatischen Verhältnissen her.
2. Die alpinen Arten im Gebiet sind nicht einzig und allein durch Windtransport an ihre heutigen Standorte gelangt. Es ist Tatsache, dass sogar in den Alpen selber, also unter den für Alpenpflanzen günstigsten Bedingungen, die schrittweise Verbreitung die Regel ist, wobei die Flugvorrichtungen nur als Mittel zur Erleichterung derselben in Frage kommen.
Die Einwanderung der Alpenpflanzen fand demnach statt (für einen Teil wenigstens) zu einer Zeit, als eine schrittweise Besiedelung des Vorgeländes dank einem raueren Klima möglich war.
3. Die Flussalluvionen beherbergen oft ebenfalls verschiedene Arten aus den Alpen. Ihr weiteres Gedeihen ist aber in Frage gestellt, sobald an jenen Orten die Vegetation mehr und mehr zu einer geschlossenen wird. Der grösste Feind der Alpenpflanzen im Tieflande ist also die Konkurrenz.
4. Die Veränderungen, die sich aus der Literatur für unsere Flora feststellen lassen, sind wohl ausnahmslos durch den Menschen und seine Kultur bedingt. Namentlich die Entsumpfungen haben zahlreiche Opfer gefordert. Auf der andern Seite sind — wiederum begünstigt durch die menschliche Kulturarbeit — eine Reihe von Arten erst neuerdings eingewandert.
5. Soweit die pflanzlichen Reste aus den Pfahlbauten zu Schlüssen berechtigen, konstatieren wir, dass im Charakter der damaligen Zeit gegenüber der heutigen sich nur wenig geändert hat; auf keinen Fall ist an eine Veränderung des Klimas zu denken.
6. Aus der Verbreitung speziell der selteneren Arten in der Schweiz lassen sich in vielen Fällen die mutmasslichen Einwanderungswege für die betreffenden Pflanzen rekonstruieren. Unser Gebiet scheint demzufolge hauptsächlich von Westen her Zuzug erhalten zu haben. Ebenso sehen wir aus der allgemeinen Verbreitung der einzelnen Spezies, dass unter den Elementen, welche durch Pflanzen, von wärmeren und trockeneren Gebieten gebildet werden, das mediterrane gegenüber dem pontischen (und atlantischen) den Vorrang hat. Diese Tatsache stimmt völlig überein mit den klimatischen Verhältnissen. — Das Hauptkontingent zu unserer Flora stellt das baltisch-silvestre Element.
7. Die Flora des Mittellandes ist zum allergrössten Teil ein Produkt der postglazialen Einwanderung. Während der Vergletscherung wurde unsere jetzige Flora ersetzt durch die von den Gletschern ebenfalls vertriebene alpine Flora. Der wichtigste Beweis für diese Ansicht ist wohl das völlige Fehlen von Resten unserer Baumarten (auch Pollen in den diluvialen Ablagerungen.
8. Gewisse Beobachtungen ergaben, dass schon ziemlich « bald » nach dem endgültigen Rückzuge der Gletscher Verhältnisse geherrscht haben müssen, denen gegenüber diejenigen von heute nur als die Folgen einer seither eingetretenen Klimaverschlechterung angesehen werden können. Den einstigen Höhepunkt kann man nach dem Vorschlage Briquets die « xerotherme Periode » nennen, die Überreste derselben in unserer heutigen Lebewelt die «xerothermen Relikte». Der Nachweis jener trockenwarmen Periode scheint besonders im Gebiet der nordischen Vergletscherung sicher zu sein, wo auch wiederholte Hebungen und Senkungen des Festlandes eine Altersbestimmung eher ermöglichen. Zahlreiche, heute nicht so weit verbreitete wärmefordernde Arten konnten in fossilem Zustande gefunden werden (Hasel, Eibe, Efeu etc.) und beweisen ein deutliches Sinken der Temperatur seither (um ca. 2,5°). Das gleiche zeigt die früher höher gewesene Baumgrenze. Weniger eindeutig sprechen sich die Forscher über das Gebiet der alpinen Vergletscherung aus. Die wichtigsten Anzeichen für ein postglaziales Klimaoptimum bilden der Loess und der Grenztorf.
9. Während aber im Norden diese Epoche erst ziemlich lange nach dem Abschmelzen der Gletscher erfolgte, scheint in den Alpen die xerotherme Periode schon bald nach dem Abschmelzen der Gletscher eingetroffen zu sein. Als wichtigste Stütze dieser Ansicht können die Funde am Schweizersbild genannt werden, wo eine Tundrenfauna direkt von einer Steppenfauna abgelöst wird.
10. Es finden sich auch in unserer Flora Überbleibsel aus jener Zeit mit einem günstigeren Klima, xerotherme Relikte:
• Alyssum montanum
• Dianthus gratianopolitanus
• Viola alba
• Rosa stylosa
• Geranium sanguineum
• Andropogon Ischaemum
• Melittis Melissophyllum
• Melica ciliata
• Carex humilis
• Limodorum abortivum
• Loroglossum hircinum
• Aceras anthropophora
• Filago arvensis.
11. Die angeführten Relikte bevorzugen sonnige, windgeschützte Abhänge mit Front nach S oder SW: sogenannte Südhalden. Typischer als in unserer Gegend treten uns solche Relikte z. B. im Schaffhauser Becken oder in der Boltiger Klus entgegen. In gleicher Weise und an denselben Standorten können auch in der Fauna Relikte nachgewiesen werden.
12. Das Gegenstück zu den xerothermen Relikten bilden die glazialen Relikte, Arten, die seit der Eiszeit dieselben Standorte beibehalten haben. Sie zeichnen sich aus durch geringe (oder fehlende) Expansionskraft, Übereinstimmung mit den an analogen Stellen fossil gefundenen Diluvialpflanzen; vereinzeltes Vorkommen im Hügellande bei gleichzeitigem Massenzentrum in den Alpen oder im Norden.
13. Die Flora der Eiszeit — soweit sie uns bekannt ist — weist neben den typischen alpinen und nordischen Arten auch noch solche auf, die scheinbar auf weniger tiefe Temperaturen hindeuten. Es handelt sich aber bei diesen fast ausschliesslich um Wasser- oder Sumpfpflanzen, die eben auch während der Eiszeit unter günstigeren ökologischen Verhältnissen lebten als die Landflora (Litoralregion stets wärmer als die Luft).
14. Die scheinbare Eintönigkeit der Diluvialflora darf nicht im Sinne eines Vorherrschens einer einzigen, der Fossilisation leichter ausgesetzten Formation (z. B. Gletscherendenflora), gedeutet werden; vielmehr dürfte diese Beschränkung auf einzelne immer wiederkehrende Arten durch die bessere Eignung zur Fossilisation zu erklären sein.
15. Den Namen Glazialrelikt verdienen in erster Linie jene Arten, die heute ungefähr dieselben Standorte bewohnen, an denen sie auch fossil aus der Glazialzeit gefunden werden. Im bernischen Gebiet sind es etwa folgende Arten:
• Betula nana
• Salix repens
• Pyrola uniflora
• Vaccinium uliginosum
• V. vitis Idaea
• Andromeda poliifolia
• Scheuchzeria palustris
• Eleocharis pauciflora
• Eriophorum polystachyon
• Trichophorum caespitosum
• Oxycoccus quadripetalus
16. In zweiter Linie sind gewisse Arten zu stellen, die heute so gut wie zur Eiszeit die Hochmoore bewohnen. Zu den schon als Relikt bezeichneten Arten (ausser Pyrola) kommen noch:
• Lycopodium innundatum
• L. annotinum
• Eriophorum gracile
• Trichophorum alpinum
• Carex pauciflora.
• C. dioica
• C. chordorrhiza
• C. heleonastes
• C. limosa
Weil bei uns in den Alpen die Hochmoore in Trockentorf liefernde Bildungen übergeben (alpine Tundren), so darf vielleicht die Vermutung ausgesprochen werden, dass unter dem Einfluss des eiszeitlichen Klimas aus den ehemaligen Hochmooren (oder Mooren überhaupt), die diluvialen Tundren entstanden.
17. Endlich sind als Glazialrelikte anzusehen die grosse Mehrzahl jener Arten, deren Hauptverbreitung in der alpinen Region oberhalb der Baumgrenze zu suchen ist, die aber in unserm Mittelland an bestimmten Stellen auch unterhalb der Baumgrenze gedeihen, wie z. B. auf dem Napf, im Schwarzwassertal u. a. O. (vide pag. 163).
Ein direkter Zusammenhang mit dem Hauptareal ist hier nicht vorhanden, eine schrittweise Verbreitung unter heutigen Bedingungen also unmöglich. Wenn aber eine sprungweise Verbreitung nur als Ausnahme angenommen werden kann, so muss die Einwanderung in eine Zeit zurückverlegt werden, wo der schrittweise Austausch möglich war, das heisst in die Eiszeit.

Item Type:

Journal Article (Original Article)

Division/Institute:

08 Faculty of Science > Department of Biology > Institute of Plant Sciences (IPS) > Palaeoecology
08 Faculty of Science > Department of Biology > Institute of Plant Sciences (IPS)

Subjects:

500 Science > 580 Plants (Botany)

ISSN:

0077-6130

Publisher:

Naturforschende Gesellschaft Bern

Language:

German

Submitter:

Peter Alfred von Ballmoos-Haas

Date Deposited:

16 Jul 2024 08:49

Last Modified:

16 Jul 2024 08:50

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BORIS DOI:

10.48350/199021

URI:

https://boris.unibe.ch/id/eprint/199021

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