Köpfe & Karrieren
14.07.2015
Sieben Wochen mit minimaler Privatsphäre, Sechstagewoche mit Zwölfstundentagen, höchste Konzentration in der sizilianischen Gluthitze – um auszugraben, was Menschen vor 2500 Jahren hinterlassen haben: Das ist die archäologische Grabungskampagne Himera.
Von Matthias Edel
Montag, 5.00 Uhr, der Wecker klingelt. Wie in Trance bewegt sich mein Körper zur alltäglichen Routine am Morgen eines Grabungstages – Bad, ankleiden, die Tagesration und ein leichtes Frühstück zubereiten, meine Unterlagen und mindestens vier Liter Wasser in den Rucksack packen. Nach und nach kommen die Studierenden aus ihren Zimmern und folgen einem ähnlichen Muster. Ab und zu vergessen sie etwas Wichtiges einzupacken – H2O und ihre Verpflegung! Ab 5.45 Uhr beginnen wir zu dritt den Kleinbus zu packen, mit dem neun Personen sowie die Ausrüstung und Werkzeuge transportiert werden. Ein Tachymeter, Nivelliergeräte, Fotokameras sowie eine Notfall-Wasserreserve haben dabei einen festen Platz. In den zweiten PKW für fünf Personen wird parallel die schriftliche Dokumentation und Vergleichsliteratur für Keramik und Architekturteile eingepackt.
Um 6 Uhr ist Abfahrt für beide Fahrzeuge. Ich fahre den Bus von unserer «Homebase» zum etwa 15 Fahrminuten entfernten Piano Tamburino – einem Hochplateau an der Nordküste Siziliens, 47 Kilometer östlich von Palermo. An dieser Stelle haben die Griechen im Jahr 649 vor Christus weit vorgeschoben in karthagisches Einflussgebiet Himera gegründet, die einzige Koloniestadt im Norden der Insel, die 409 vor Christus von den Karthagern zerstört wurde. Dort befindet sich das Grabungsareal, wo das Institut für Archäologische Wissenschaften mit einem Team von 13 Leuten unter Leitung von Professorin Elena Mango seit 2012 auf dem bisher unerforschten Gebiet des Piano del Tamburino nach antiken Überresten sucht. In meiner Position als Grabungsassistent obliegen mir neben der Organisation und Vor- und Nachbereitung der siebenwöchigen Kampagne die Vermittlung von Grabungs- und Vermessungstechniken sowie die Betreuung der jungen Studierenden. Ein Teil der geborgenen Funde bildet die Basis meiner eigenen Forschung (Dissertation).
Der erste Stopp ist ein Magazin, in welchem ein Teil unserer Werkzeuge (Schaufeln, Schubkarren, Eimer und Weiteres) lagert. Diese müssen noch in die PKWs der wartenden Arbeiter rein, dann geht’s weiter auf den Hügel. Auf dem Weg grüssen uns einige Anwohner, die erfreut sind, dass wir diesen Sommer wieder gekommen sind, um ihre Geschichte zu erforschen. Manchmal geben sie uns frische Früchte mit und erkundigen sich, ob wir etwas «Tolles» gefunden haben. Auf dem Hügel angekommen, wird die Ausrüstung aus beiden PKWs entladen und je nach Grabungsbereich sortiert. Beispielsweise landen vier Schaufeln, drei Spitzhacken, Eimer, Kellen und leere Fundkisten in der ersten Schubkarre. Da die meisten Studierenden noch nicht ganz wach sind, lasse ich das Ausladen langsam angehen und drücke jedem etwas in die Hand. Daneben werden die Arbeiter, die sehr froh über diese einmonatige Anstellung sind, von Professorin Mango hinsichtlich der Schutzausrüstung kontrolliert und auf ihre heutigen Aufgaben hingewiesen. Dann laufen sie mit ihren «Schnittleitern» zu den grossräumig verteilten Schnitten im Gelände und beginnen mit den Grabungsarbeiten.
Wieder hat ein Student keine Kopfbedeckung dabei! Also muss improvisiert werden. Ein Halstuch wird umfunktioniert, das tut’s auch. Oftmals werden andere Teile der persönlichen Schutzausrüstung vergessen, wie Handschuhe, Sonnen- oder Knieschutz, Dinge, die zusammen mit der richtigen Kleidung (Hut, langärmlige Hemden und Hosen, festes Schuhwerk mit Zehenschutzplatte) bei Temperaturen bis 40 Grad im Schatten auf dem baumlosen Plateau unabdingbar sind. Sonnenbrände und kleinere Verletzungen sind ohne dies vorprogrammiert. Nur selten wird man von einem kühlen Sturzregen überrascht.
Wenn alle an ihrem Schnitt sind und mit dem Graben beginnen, überprüfe ich in meinem Areal mit dem Nivelliergerät die Tageshöhe, um die Schnitttiefen zu erfassen und mache mir Notizen zu den Wetterbedingungen und dem aktuellen Stand der Arbeiten. Anschliessend stelle ich den Tachymeter auf, um freigelegte Mauerreste und weitere Befunde einzumessen. Dabei kommen mir diverse Fragen in den Sinn, zum Beispiel: Was war das für ein Gebäude? Was geschah hier? Werden uns die Kleinfunde helfen, eine zeitliche Einordnung und Bestimmung des Komplexes zu ermöglichen?
9 Uhr, die 15-minütige Pause – am Boden im Schatten einiger Kakteen hockend – bringt eine leichte Abkühlung. Nach diesem Frühstück mit Sandwiches, Obst oder leichten Salaten geht es zurück in meinen Schnittbereich, ich gebe Arbeitsanweisungen, Hilfestellungen und Einschätzungen und frage zugleich in einem kurzen Gespräch nach dem allgemeinen Befinden der Teilnehmer. Neben der alltäglichen physischen Belastung durch das heisse Klima sowie die körperliche, ungewohnte Arbeit ist die psychologische Komponente enorm wichtig. Die mentale Herausforderung, sich auf sieben Wochen mit minimaler Privatsphäre einzulassen, sechs Tage pro Woche mindestens zwölf Stunden zu arbeiten und dabei möglichst keine Fehler zu begehen sowie die Konzentration und Aufmerksamkeit permanent hoch zu halten und dazu seine eigenen Belange und Probleme für den Teamfrieden hinten anzustellen, wird oft unterschätzt.
Nach einer 30-minütigen Mittagspause, wo das ganze Team inmitten des einzigen Schatten spendenden Kakteenhains zusammensitzt, bekommen wir heute Besuch von der Leitung des archäologischen Parks, von Professoren aus Palermo, einem Vertreter des archäologischen Dienstes sowie Lokalpolitikern. Die Führung der Gäste obliegt Professorin Mango. In den heissesten Stunden zwischen 13 und 15 Uhr achte ich besonders darauf, dass die Leute regelmässig trinken und ihren Sonnenschutz tragen. Die Zeit scheint langsamer zu laufen und die schweisstreibenden Arbeiten gehen schleppend voran, doch ich versuche, möglichst alle Teilnehmer zu motivieren und bei Laune zu halten – der Feierabend naht.
Ab 15.30 Uhr heisst es, alles aufzuräumen und mit System in den Bus zu packen. Die Tagesfunde (Münzen, Keramik-, Architektur-, Metall- und Terrakottafragmente) werden von Elena Mango ins Museum gebracht, während der Bus die Werkzeuge in das Magazin und das Team zur Homebase bringt. Damit enden zwar die anstrengenden Grabungsarbeiten, doch in der Unterkunft stehen weitere Aufgaben für mich an. Dazu zählen Besorgungsfahrten in die umliegenden Dörfer, die Sicherung der Mess- und Foto-Daten sowie die entsprechenden Nachbearbeitungen, die mich oft bis in die Nacht beschäftigen, und die Vervollständigung meiner handschriftlichen Dokumentation. Nach der täglichen, von Professorin Mango um 19 Uhr geleiteten Teamsitzung (zum Stand der Arbeiten sowohl auf dem Gelände als auch bei der Fundbearbeitung im Museum und zur Organisation des nächsten Tages) folgt gegen 20.30 Uhr das Nachtessen. Während das Team danach noch gesellig zusammensitzt, verschwinde ich meist ins Büro und arbeite an den Vermessungsplänen oder kontrolliere die Fotos der Grabungsbefunde und Einzelfunde. Dies ist für mich zugleich eine Kontrollmöglichkeit, um Mängel zu beheben und neuen Fehlern vorzubeugen, aber auch die spannende, einzige Chance, Einsicht in die parallel laufenden Arbeiten am Fundmaterial zu erhalten.
Zwischen 22 und 23 Uhr kehrt langsam Ruhe ein und die Studierenden ziehen sich auf ihre Zimmer zurück. Häufig schlafen alle, wenn ich zu Bett gehe. Noch ein kurzer Blick auf den Wecker – 23.18 Uhr – gut, immerhin mehr als fünf Stunden Schlaf, bevor der nächste aufregende Grabungstag beginnt.
marcel chatelain-ammeter,
14.07.2015, 22:26
ausgrabungen bei gluthitze?
das projekt finde ich toll, sowohl was das fachlich/inhaltliche als auch das soziale betrifft. allerdings frage ich mich, weshalb die ausgrabungen in dieser gluthitze stattfinden müssen. warum nicht "siesta" zwischen 13 und 16 uhr und dafür die ausgrabungen am frühen abend fortsetzen? warum nicht im herbst bei milderen temperaturen? wissenschaft in ehren, aber muss es gleich ein drilllager sein?