Das Forschungsvorhaben widmet sich der wissenschaftlichen Erschliessung und digitalen Rekonstruktion der Bibliothek des Augsburger Frühhumanisten Sigmund Gossembrot (1417–1493). Nach einem Studium der Artes in Wien (1433–1436: Bakkalaureat) durchlief Gossembrot in seiner Heimatstadt Augsburg eine erfolgreiche Ämterlaufbahn, ehe er sich ab 1461 in den Strassburger Konvent zum ‘Grünen Wörth’ zurückzog, um sich dort einem intensiven Studium seiner mitgeführten Büchersammlung zu widmen. Der umfangreiche Bestand umfasst antike und spätantike Literatur, die Bibel, Kirchenväter und mittelalterliche Theologie, (Pseudo-)Historiographisches, mittelalterliche Wissenschaft, Poetik und Dichtung, humanistische Literatur aus Italien sowie Zeitgenössisches bis hin zu Briefen, die Gossembrots soziales Umfeld im süddeutschen Raum (Wien, Schwaben, Franken, Oberrhein) betreffen. Anhand einschlägiger Lesespuren soll aufgezeigt werden, wie Sigmund Gossembrot die Bände seiner Bibliothek genutzt und über zahlreiche Querverweise und Kommentare miteinander vernetzt hat. Dabei werden historische Verfahren des Lesens, Ordnens und Verstehens von Literatur fassbar. Zugleich erweisen sich Gossembrots Lektürepraktiken als ‘soziale Negotiation’, denn die in den Handschriften erhaltenen Notate geben Aufschluss darüber, wie Gossembrot mit Zeitgenossen wie Konrad Säldner, Sigismund Meisterlin oder Jakob Wimpfeling in Kontakt stand, dabei ein interpersonelles sowie interinstitutionelles Netzwerk knüpfte und auf diese Weise an intellektuellen Diskursen seiner Zeit partizipierte.
Im Rahmen des Vorhabens sollen digitale Verfahren entwickelt werden, welche diese Praktiken dokumentieren und es ermöglichen, den heute über ganz Europa verstreuten Bibliotheksbestand zu rekonstruieren sowie weitere ihm zugehörige Bände zu identifizieren. Das Projekt hat mit gegenwärtig 36 bekannten von mutmasslich etwa 100 erschliessbaren Handschriften exemplarischen Charakter. Es soll als Modell neuer methodischer Zugänge dienen, das für die digitale Dokumentation weiterer historischer Quellenbestände genutzt und im Hinblick auf deren jeweilige Eigenart angepasst werden kann. Die historische Bestandserschliessung wird dabei durch die Darstellung interpersoneller und interinstitutioneller Beziehungen ergänzt. Zu diesem Zweck soll eine digitale Präsentation erstellt und durch Verfahren der Langzeitarchivierung nachhaltig gesichert werden. Ein einfacher Prototyp, der Grundprinzipien des Vorhabens demonstriert, steht im Internet bereit (www.gossembrot.unibe.ch) und wird im Antrag ausführlich erläutert. Das Projekt soll methodische Zugänge der Erschliessung historischer Bestände auf einer praktischen und theoretischen Ebene fördern. Es birgt das Potenzial, aktuelle digitale Verfahren des ‘Distant Reading’ durch solche des ‘Close Reading’ zu ergänzen. Mit der Reflexion digitaler Repräsentationsformen von historischen Praktiken des Sammelns, Vernetzens und Erschliessens soll das Projekt zu einer «allgemeinen Theorie des neuen Literaturarchivs» (Franco Moretti) beitragen.