ZACHOR! - Vom Schutzjuden zum Schlossherrn: Wolf Dreyfuss’ kurze Zeit als Schlossherr im Badener Landvogteischloss

Bürgin, Martin (28 November 2021). ZACHOR! - Vom Schutzjuden zum Schlossherrn: Wolf Dreyfuss’ kurze Zeit als Schlossherr im Badener Landvogteischloss (Unpublished). In: ZACHOR! – Vom Schutzjuden zum Schlossherrn. Historisches Museum Baden. 28.11.2021.

Zur Zeit des Ancien Régime, als die Grafschaft Baden ein von den eidgenössischen Orten verwaltetes Untertanengebiet war, stand das Badener Landvogteischloss als Symbol für deren Herrschaft. Dort residierte der von den eidgenössischen Orten eingesetzte Landvogt. Aus jüdischer Perspektive erinnert der Ort in erster Linie an die diskriminierenden Sonderrechte, welchen die Jüdinnen und Juden unterworfen waren. Als «Fremde» waren sie verpflichtet, alle 16 Jahre einen Schutz- und Schirmbrief zu erwerben, damit ihnen die Landvögte ein zumindest temporäres Niederlassungsrecht gewährten. Das änderte sich allerdings mit dem Niedergang der alten Eidgenossenschaft.

Am 12. April 1798 wurde in Aarau die «eine und unteilbare Helvetische Republik» ausgerufen. Dabei handelte es sich um ein Staatsmodell, das sich am Vorbild der Französischen Republik orientierte – und mit französischer Waffenhilfe errichtet wurde. Die herrschaftlich verwalteten Untertanengebiete, wie etwa die Grafschaft Baden, wurden zu gleichberechtigten, demokratisch konstituierten Kantonen umgewandelt. Leibeigenschaft, persönliche Feudallasten, Folter und Leibesstrafen wurden abgeschafft. Auch die Sonderabgaben der Juden wurden aufgehoben. Sie mussten keine Schutz- und Schirmbriefe mehr erwerben, konnten frei reisen und hatten keine Leibzölle zu errichten. Die Verleihung des Bürgerrechts wurden ihnen allerdings nach wie vor verweigert. Zwar wurde im helvetischen Parlament heftig darüber debattiert, die rechtliche Gleichstellung endlich einzuführen, eine Mehrheit der Parlamentarier lehnte das Ansinnen jedoch ab. Die Schweizer Juden – auch solche, deren Familien seit Generationen im Surbtal lebten – wurden unter das Fremdengesetz gestellt.

Einer, der sich dagegen wehrte, war Wolf Dreyfuss. Als Wortführer der jüdischen Gemeinden von Lengnau und Endingen verfasste er eine Protestnote gegen die Entscheidung des Parlaments. Dreyfuss war ein äusserst erfolgreicher Geschäftsmann, dem ein wirtschaftlicher und sozialer Aufstieg bereits unter den restriktiven Bedingungen des Ancien Régime gelang. Während des knapp fünfjährigen Bestehens der Helvetischen Republik wurde er zu einer einflussreichen Figur. Als Finanzagent der Republik sollte er flüssige Mittel für deren Staatshaushalt beschaffen. Das machte er in erster Linie durch Devisengeschäfte im Ausland. Gleichzeitig wurde er von der Zentralregierung damit beauftragt, nicht mehr benötigte Immobilien der alten Herrschaft zu veräussern.
Eines dieser Häuser war das Badener Landvogteischloss mit Nebengebäuden, Gärten und Reben. Anstatt die Anlage zu versteigern, kaufte sie Dreyfuss auf eigene Kosten und richtete im April 1800 seinen Wohnsitz darin ein. Mit dem Einzug ins Landvogteischluss Baden brachte er seinen persönlichen Geltungsanspruch zum Ausdruck. Gleichzeitig gelang ihm ein symbolpolitischer Coup: Während der alten Ordnung mussten die Jüdinnen und Juden im Landvogteischloss um Schutz und Schirm bitten und diesen für teures Geld erwerben; nun lebte einer dieser ehemaligen «Schutzjuden» in demselben Schloss. Damit brachte er zum Ausdruck, dass sozialer und wirtschaftlicher Aufstieg mit der neuen Ordnung auch für Juden möglich sei. Für die kurze Zeit der Helvetischen Republik sollte er recht behalten.

Item Type:

Conference or Workshop Item (Speech)

Division/Institute:

01 Faculty of Theology > Institute of Old Catholic Theology

UniBE Contributor:

Bürgin, Martin

Subjects:

200 Religion
200 Religion > 270 History of Christianity
200 Religion > 290 Other religions
300 Social sciences, sociology & anthropology > 380 Commerce, communications & transportation
300 Social sciences, sociology & anthropology > 390 Customs, etiquette & folklore
900 History
900 History > 940 History of Europe

Language:

German

Submitter:

Martin Bürgin

Date Deposited:

24 Mar 2022 14:08

Last Modified:

05 Dec 2022 16:13

URI:

https://boris.unibe.ch/id/eprint/166921

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