Zur Sprachdynamik syntaktischer Variablen im (historischen) Westdeutschen: Studien anhand der Fragebögen der Enquête von Willems.

Pheiff, Jeffrey Alan (25 September 2023). Zur Sprachdynamik syntaktischer Variablen im (historischen) Westdeutschen: Studien anhand der Fragebögen der Enquête von Willems. (Unpublished). In: 15. Jahrestagung der Gesellschaft für germanistische Sprachgeschichte. Regionale Sprachgeschichte(n). Universität Passau. 25-27 Sept 2023.

1885 wurde eine Fragebogenerhebung von Pieter Willems durchgeführt. Die sog. Enquête von Willems stellt eine der ältesten dialektologischen Fragebogenerhebungen dar. Damit wurden Ortsdialekte in den Niederlanden, Belgien, Frankreich, Luxemburg sowie im damaligen Deutschen Reich dokumentiert. Von den 349 eingegangenen Fragebogen stammen 59 aus Orten im heutigen bundesdeutschen Staatsgebiet, die sich allesamt im sog. (historischen) westdeutschen Raum (im Sinne von Schmidt 2017) verteilen. Die Fragebögen sind für die Erforschung der regionalen Sprachgeschichte im (historischen) Westdeutsch deshalb von Interesse, weil sie neben ihrem Umfang (über 15.000 Abfrageitems, vgl. Goossens 1989) u. a. umfassende Ausschnitte der (Flexions- und Wortbildungs-)Morphologie und der Syntax der Dialekte dokumentieren. Abgefragt wurden die Sprachdaten auf Niederländisch. Die 59 Fragebögen bilden eine in der germanistischen Dialektforschung kaum beachtete empirische Datengrundlage, die (u. a. durch den Vergleich mit jüngeren Sprachdaten) zur Erforschung der Sprachdynamik dieser Region einen wesentlichen Beitrag leisten kann (vgl. Pheiff 2022).
Der Vortrag möchte „[…] über dieses in deutschen Dialektologenkreisen bisher fast unbekannte Unternehmen […]“ berichten und „[…] seine Bedeutung für die niederrheinische Mundartforschung“ verdeutlichen (Goossens 1985: 48). Im ersten Teil des Vortrags wird daher die Erhebung aus forschungsgeschichtlicher Perspektive beleuchtet und die Möglichkeiten und Grenzen der Datengrundlage aufgezeigt. Der zweite Teil präsentiert die Ergebnisse exemplarischer Fallstudien zur Sprachdynamik der Dialekte, um den Wert dieses dialektologischen Schatzes für Studien zur Diatopie und Diachronie der Dialekte aufzuzeigen.
Fallstudie I zur pronominalen Partivität: Die Fragebögen enthalten zwei Satzkontexte, in denen Partitivpronomen vorkommen (ik heb er vijf [appels] ‚Ich habe ere fünf [Äpfel]‘, ik heb er geen [geld] ‚Ich habe ere keins [Geld]‘). Erste Ergebnisse zeigen Folgendes: Die Form (d)er(e) kommt im ersten Satzkontext 43 Mal vor. Die Form der ist im Niederfränkischen und im niederfränkisch-ripuarischen Übergangsgebiet charakteristisch, die Form ere hingegen ist im Ripuarischen belegt. Die Form (d)er(e), welche historisch Bezug auf Pluralnomen und Feminina nimmt, kommt außerdem 12 Mal im zweiten Satzkontext vor. 16 Mal belegt ist hingegen die historische Form für Neutra es. Diese Belege weisen insofern eine charakteristische Raumverteilung auf, als die Form es im Süden (im Ripuarischen und im niederfränkisch-ripuarischen Übergangsgebiet) und die Form (d)er(e) im Niederfränkischen und im Übergangsgebiet zum Ripuarischen hin verbreitet ist. Die Sprachdaten werden in Bezug zu jüngeren Erhebungsdaten aus dem REDE-Teilprojekt „Morphosyntax“ (Kasper & Pheiff 2019) gesetzt.
Fallstudie II zur Negationskongruenz: Behandelt wird sowohl negative spread (nooit geen tijd ‚nie keine Zeit‘, nergens geen rust ‚nirgendwo keine Ruhe‘) als auch negative doubling (niemand niet ‚niemand nicht‘). Die Variantenverteilung weist in Bezug auf das negative spread eine Nord-Süd-Verteilung auf: Die niederfränkischen Dialekte sowie die Dialekte des niederfränkisch-ripuarischen Übergangsgebiets weisen ein gehäuftes Vorkommen von negative doubling auf. Die ripuarischen Dialekte neigen hingegen zur Negation mit einem Negationsträger. Kein einziger Dialekt weist hingegen negative doubling auf: Dieses Ergebnis steht in Übereinstimmung mit Moser (2021), die feststellt, dass negative spread eher ein westliches Phänomen darstellt. Die Dialekte unterscheiden sich vielmehr in den ihnen zur Verfügung stehenden lexikalischen Ausdrucksmöglichkeiten der Negation: niemand herrscht im Niederfränkischen vor, kein Mensch im nördlichen Niederfränkisch, keine(r) hingegen im westlichen Ripuarisch und die Variante niemandes im niederfränkisch-ripuarischen Übergangsgebiet.

Literatur

Goossens, Jan (1985): Niederrheinische Mundarten in der Enquete von Pieter Willems (1885). In: Arend Mihm (ed.): Sprache an Rhein und Ruhr. Dialektologische und soziolinguistische Studien zur sprachlichen Situation im Rhein-Ruhr-Gebiet und ihrer Geschichte. Stuttgart: Steiner, 49–62.

Goossens, Jan (1989): Pieter Willems en zijn dialectenquête. In: Taal en Tongval, 5–15.

Kasper, Simon & Jeffrey Pheiff (2019): Morphosyntax der Regionalsprachen. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik, 47, 249–253.

Moser, Ann-Marie (2021): Negationskongruenz in den deutschen Dialekten. Stuttgart: Steiner.

Pheiff, Jeffrey (2022): Historical Dialect Questionnaires and Grammatical Variation and Change. Feminine Motion and Negative Concord in the Willems Questionnaires. In: Sprachwissenschaft, 47(1), 1–45.

Schmidt, Jürgen Erich (2017): Vom traditionellen Dialekt zu den modernen deutschen Regionalsprachen. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung/Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (eds.): Vielfalt und Einheit der deutschen Sprache. Zweiter Bericht zur Lage der deutschen Sprache. Tübingen: Stauffenburg, 105–143.

Item Type:

Conference or Workshop Item (Speech)

Division/Institute:

06 Faculty of Humanities > Department of Linguistics and Literary Studies > Institute of Germanic Languages
06 Faculty of Humanities > Department of Linguistics and Literary Studies > Institute of Germanic Languages > German Linguistics

UniBE Contributor:

Pheiff, Jeffrey Alan

Subjects:

400 Language > 430 German & related languages
800 Literature, rhetoric & criticism > 830 German & related literatures
400 Language > 410 Linguistics

Language:

German

Submitter:

Jeffrey Alan Pheiff

Date Deposited:

05 Oct 2023 12:33

Last Modified:

05 Oct 2023 12:33

URI:

https://boris.unibe.ch/id/eprint/186924

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