Zur Nacherziehung versorgt. Die administrative Versorgung von Jugendlichen im Kanton Bern 1942–1973

Germann, Urs Philipp (2018). Zur Nacherziehung versorgt. Die administrative Versorgung von Jugendlichen im Kanton Bern 1942–1973. Berner Zeitschrift für Geschichte, 80(01), pp. 7-43. Historischer Verein des Kantons Bern

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«Es bleibt festzuhalten, dass es trotz intensiver Überwachung, wiederholten
Verwarnungen samt Haft bis jetzt nicht gelungen ist, Mireille die Grundsätze
eines geordneten Lebens beizubringen. Sie akzeptiert keine Weisungen und
weist jede Autorität zurück.»1 Mit dieser Begründung wies der Berner Regierungsrat
im Frühjahr 1970 die 19-jährige Mireille B. auf unbestimmte Zeit in
die Anstalten Hindelbank ein. Mireille war eine von schätzungsweise 460 Minderjährigen,
welche die Berner Regierung zwischen 1942 und 1973 auf administrativem
Weg versorgen liess.2 Rechtlich gesehen war eine solche Versorgung
keine Strafe, sondern eine «Nacherziehung». Sie sollte Jugendliche, die
gegen ihre Eltern oder Vormünder aufbegehrten, oder solche, deren Arbeitsleistung,
Freizeitgestaltung oder Sexualität den gesellschaftlichen Erwartungen
nicht entsprachen, mit Zwang zu einem seriösen Lebenswandel bewegen.
Die Versorgungspraxis im 20. Jahrhundert beschäftigt seit einiger Zeit Forschung
und Politik. Auf Druck von Betroffenen, die – wie Mireille B. – die Härte
der behördlichen Praxis persönlich erfahren haben, beschloss das eidgenössische
Parlament im Frühling 2014 ein erstes Rehabilitationsgesetz und die
Einsetzung einer Expertenkommission, die das begangene Unrecht historisch
aufarbeiten soll. Obwohl viele Betroffene, die sich heute zu Wort melden, als
Jugendliche oder junge Erwachsene versorgt worden sind, hat sich die Forschung
noch kaum mit dieser Altersgruppe beschäftigt.3 Die Historikerin Tanja
Rietmann untersucht in ihrer einschlägigen Dissertation zum Kanton Bern in
erster Linie die administrative Versorgung von Erwachsenen.4 Das Gleiche gilt
für Arbeiten zu anderen Kantonen.5 Untersuchungen zu Verding- und Pflegekindern
fokussieren dagegen auf jüngere Betroffene. Überschneidungen gibt
es allerdings insofern, als auch fremdplatzierte Kinder im späteren Verlauf
des Lebens administrativ versorgt werden konnten.6
Als Mireille ihre Haft in Hindelbank antrat, hatte die Schweiz zwei Jahrzehnte
des wirtschaftlichen Aufschwungs hinter sich. Der Wandel von einer
Industrie- zu einer Konsumgesellschaft ging mit einer wachsenden Vielfalt an
Lebensentwürfen einher. Individuelle Lebensstile drückten sich in Mode, Musik,
Film und Sport aus. Die Geschlechterbeziehungen lockerten sich; das Konkubinatsverbot
kam unter Druck, und die Pille ermöglichte neue sexuelle Freiheiten.
Soziale Protestbewegungen stellten Autoritäten und Institutionen
infrage, und auch die Forderung nach dem Frauenstimmrecht bekam Ende
Zur Nacherziehung versorgt
Die administrative Versorgung von Jugendlichen
im Kanton Bern 1942 –1973
Urs Germann
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der 1960er-Jahre neuen Schub. Vor diesem Hintergrund wirkt die Internierung
einer jungen Frau anachronistisch und wirft Fragen auf: Auf welcher rechtlichen
Grundlage beruhten die Versorgungsentscheide des Regierungsrats (Kapitel
2 dieses Beitrags)? Wer waren die jungen Frauen und Männer, die von
den Massnahmen betroffen waren, und warum gerieten sie ins Visier der Behörden?
Mit welchen Begründungen entzog man jungen Menschen, die keiner
Straftat beschuldigt wurden, die persönliche Freiheit (Kapitel 3)? In welchen
Anstalten und nach welchen Grundsätzen wurden die Massnahmen zur «Nacherziehung
» der Jugendlichen vollzogen (Kapitel 4)?
Der hier berücksichtigte Untersuchungszeitraum erstreckt sich von der Einführung
des schweizerischen Strafgesetzbuchs (1942) bis zur Revision des Berner
Gesetzes über die Jugendrechtspflege (1974). Ein besonderer Fokus liegt
auf den 1960er-Jahren, als sich die Versorgung mehr und mehr zu einem Kontrollinstrument
gegenüber vermeintlich «sexuell verwahrlosten» jungen Frauen
entwickelte. Die Analyse stützt sich vor allem auf Behördenunterlagen, die jedoch
einer Lektüre «gegen den Strich» unterzogen wurden, um dadurch eine
kritische Distanz zu zeitgenössischen Wertungen herzustellen. Untersucht
wurden zum einen 84 Versorgungsbeschlüsse des Regierungsrats (Stichjahre:
1945, 1950, 1955, 1960, 1965, 1970), zum anderen die im Staatsarchiv überlieferten
Fallakten der Jugendanwaltschaft Jura sowie einige erhaltene Unterlagen
der Jugendanwaltschaft Burgdorf.7 Um punktuell auch die Gemeindeebene einzubeziehen,
wurden zusätzlich einzelne Akten der Vormundschaftskommission
der Stadt Bern konsultiert.

Item Type:

Journal Article (Original Article)

Division/Institute:

04 Faculty of Medicine > Pre-clinic Human Medicine > Institute for the History of Medicine

UniBE Contributor:

Germann, Urs Philipp

Subjects:

600 Technology > 610 Medicine & health

ISSN:

0005-9420

Publisher:

Historischer Verein des Kantons Bern

Language:

German

Submitter:

Barbara Franziska Järmann-Bangerter

Date Deposited:

19 Feb 2019 07:48

Last Modified:

05 Dec 2022 15:24

BORIS DOI:

10.7892/boris.123824

URI:

https://boris.unibe.ch/id/eprint/123824

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