Schumann, Stephan (2011). Leistungs- und Herkunftseffekte beim Hochschulzugang in der Schweiz. Ein Vergleich zwischen Absolventinnen und Absolventen mit gymnasialer Maturität und mit Berufsmaturität. Zeitschrift für Pädagogik, 57(2), pp. 246-268. Beltz Juventa
Full text not available from this repository.Welche Rolle spielen Leistungs- und Herkunftsmerkmale auf dem Weg zur gymnasialen Maturität bzw. zur Berufsmaturität und nachfolgend beim Hochschulzugang in der Schweiz? Auf der Basis der nationalen PISA 2000/TREE-Längsschnittdaten (N = 2.123) zeigt der Beitrag unter Bezugnahme auf Boudon`s Konzept primärer und sekundärer Herkunftseffekte, dass bei vergleichbarer Lesekompetenz Jugendliche aus niedrigeren sozialen Schichten häufiger eine Berufsmaturität anstelle einer gymnasialen Maturität erwerben. Im Anschluss an die Maturität bleiben aus beiden Absolventengruppen Jugendliche mit schlechteren Lesekompetenzen gehäuft der Hochschule fern. Bei kontrollierter Leseleistung zeigt sich zudem, dass Berufsmaturandinnen und Berufsmaturanden aus niedrigeren sozialen Schichten seltener ein Studium beginnen.
Zusammenfassung und Diskussion
Zur Wirkung von Leistungs- und Herkunftsmerkmalen beim Hochschuleintritt in der Schweiz liegen bislang kaum empirische Studien vor. Der für die Schweiz und deren Sprachregionen repräsentative und zudem längsschnittliche TREE-Datensatz birgt jedoch ein großes Potenzial zur Analyse von Übergängen im Bildungsverlauf 15- bis 22-Jähriger. In der vorliegenden Untersuchung wurde dieser Datensatz verwendet. Der Übergangsanalyse wurde konzeptuell das Modell primärer und sekundärer Herkunftseffekte nach Boudon (1974) zugrunde gelegt.
Zunächst zeigt sich ein theoriekonformer Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und der Lesekompetenz der Jugendlichen (primärer Effekt). Eine höhere Lesekompetenz geht dabei mit deutlich höheren Chancen einher, eine gymnasiale Maturität anstelle einer Berufsmaturität zu erwerben. Unter Kontrolle des Leistungseffekts kann jedoch auch ein starker Einfluss der sozialen Herkunft beobachtet werden. Unter Bezug auf die HISEI-Quartile ist die Chance auf den Erwerb einer gymnasialen Maturität für Jugendliche aus einer hohen Sozialschicht fast dreimal so groß wie für Jugendliche aus einer niedrigen sozialen Schicht (sekundärer Effekt). Dieser Effekt kann als ein Ergebnis selektiver Bildungsentscheidungen während der obligatorischen Schulzeit und am Übergang in die Sekundarstufe II interpretiert werden. Das Ergebnis fügt sich in die Befundlage zu Herkunftseffekten an Übergängen während des Bildungsverlaufs in der Schweiz ein.
Beim Hochschulzugang kann für die Gruppe der Berufsmaturandinnen und Berufsmaturanden beobachtet werden, dass Jugendliche aus höheren sozialen Schichten eher in die Hochschule eintreten. Da dieser Effekt auch unter Kontrolle der Lesekompetenz nachweisbar ist, kann er als sekundärer Herkunftseffekt interpretiert werden. Ein primärer Effekt lässt sich ebenfalls identifizieren: Berufsmaturandinnen und Berufsmaturanden mit höherer Lesekompetenz beginnen häufiger ein Studium. Für die Absolventinnen und Absolventen mit gymnasialer Maturität sind am Hochschulzugang Effekte der Leseleistung nachweisbar. Darüber hinaus gehende Herkunftseffekte zeigen sich dagegen nicht in systematischer Art und Weise.
Trotz des hohen Analysepotenzials des TREE-Datensatzes muss auf einige Limitationen der vorliegenden Studie hingewiesen werden.
Erstens ist die Lesekompetenz sicherlich ein zwar wichtiger, aber letztlich unvollständiger Indikator schulischer Leistung.
Zweitens fehlen Angaben zum Leistungsstand zur Zeit des Maturitätserwerbs (z.B. Noten). Das hier verwendete Leistungsmaß (Lesekompetenz) wurde im Rahmen der PISA-Studie auf Seiten der Jugendlichen im Alter von 15 Jahren erfasst. Man hätte somit bei den Analysen zum Hochschulzugang auch von früheren Leseleistungen sprechen können. Es ist jedoch wiederum bemerkenswert, dass sich mittels dieser Variable drei bis fünf Jahre später stattfindende Hochschulzugänge vorhersagen lassen. Dies gilt umso mehr, als dass der in PISA gemessenen Lesekompetenz ein Grundbildungskonzept zugrunde liegt. Curriculare Aspekte spielen dabei eine untergeordnete und Fragen der Studierfähigkeit praktisch keine Rolle.
Drittens sollte nicht übersehen werden, dass die unter Kontrolle der Leistungen gefundenen Herkunftseffekte nur vermutete sekundäre Effekte sind. Dies daher, weil in TREE keine differentielle Angaben zu subjektiv erwarteten Bildungsnutzen (Renditen, Kosten, Erfolgswahrscheinlichkeiten) erfasst wurden.
Und viertens sollte das hier zugrunde gelegte und der Soziologie entstammende theoretische Modell hinterfragt werden. Sicherlich überzeugt es u.a. durch seine Sparsamkeit. Gleichzeitig sollte insbesondere aus bildungswissenschaftlicher und bildungspraktischer Perspektive gefragt werden, ob die individuellen Disparitäten beim Erwerb schulischer Kompetenzen tatsächlich nur durch Unterschiede zwischen den sozialen Schichten erklärt werden sollten. Die Eigenleistung der Schule im Hinblick auf den Kompetenzerwerb und auf ihre sozial ausgleichende Funktion wird im Modell nicht berücksichtigt. Dies gilt es bei der Interpretation der Befunde zu beachten.
Im Ausblick kann man festhalten, dass die Ankündigung der Durchführung eines achten TREE-Panels im Jahre 2010 das Analysepotenzial des Datensatzes nochmals erhöht. Mit diesen Daten wird es dann im Längsschnitt möglich sein, in Abhängigkeit von Leistungs- und Herkunftsmerkmalen nicht nur Fragen des Hochschulzugangs, sondern längerfristig auch solche des Studienerfolgs (Studienabschluss, Studienabbruch und Studienwechsel) zu beleuchten.
Item Type: |
Journal Article (Original Article) |
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Division/Institute: |
03 Faculty of Business, Economics and Social Sciences > Social Sciences > Institute of Sociology |
ISSN: |
0044-3247 |
Publisher: |
Beltz Juventa |
Projects: |
[1036] Transitions from Education to Employment (TREE) Official URL |
Language: |
German |
Submitter: |
Sandra Hupka-Brunner |
Date Deposited: |
16 Oct 2019 15:24 |
Last Modified: |
27 Jun 2024 09:46 |
Uncontrolled Keywords: |
Leistungs- und Herkunftsmerkmale gymnasialen Maturität Berufsmaturitätszeugnisse Hochschulzugang |
URI: |
https://boris.unibe.ch/id/eprint/131072 |