Nehrlich, Thomas (2021). Alexander von Humboldt: Berlin 1830–1835. Eine Publikationsbiographie. Bielefeld: Aisthesis 10.46479/tna00002
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Der Naturforscher und Reiseschriftsteller Alexander von Humboldt (1769–1959) veröffentlichte neben Großwerken wie der Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent (29 Bände, 1805–1838) und dem Kosmos (5 Bände, 1845–1862) auch ein umfangreiches publizistisches Œuvre: Zwischen 1789 und 1859 publizierte er rund 750 Aufsätze und Artikel in Zeitschriften und Zeitungen. Sie machen einen großen Teil seiner internationalen Rezeption und seiner nachhaltigen Wirkung aus, zu seinen Lebzeiten wurden sie in über 3600 Fassungen in 15 Sprachen an über 400 Orten weltweit gedruckt. Aufgrund ihrer Themenvielfalt und ihrer weiten Verbreitung sind Humboldts kleinere Schriften bis heute kaum aufgearbeitet. Erst 2019 erschien eine Ausgabe der Sämtlichen Schriften in zehn Bänden (herausgegeben von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich). Auf dieser Textgrundlage verfolgt die vorliegende Arbeit das Ziel, Humboldts wenig erforschte Publizistik in einem wenig erforschten Zeitraum zu erschließen. Das gewählte Untersuchungsintervall von 1830 bis 1835 stellt eine Phase am Beginn von Humboldts Spätwerk dar, in der er sich nach seiner Russlandexpedition (1829) zum ersten Mal seit seiner Jugend wieder in Berlin niederließ. Die Studie widmet sich also dem ‚Berliner Humboldt‘, der aus Paris zurückgekehrt ist und die langjährige Auswertung seiner Amerika-Reise (1799–1804) abschließt, und dem Russlandreisenden, der die Arbeit an seinem Asienwerk aufnimmt. In diesem Zeitraum veröffentlichte Humboldt kaum Monographien, sodass man zu seiner Erforschung besonders auf die publizistischen Beiträge angewiesen ist. Insgesamt publizierte Humboldt in der Untersuchungsspanne 45 Aufsätze und Artikel zu diversen Themen: zum Goldabbau in Sibirien, zur Nutzung der Agave in Mexiko, zur geographischen Vermessung der Ostsee und zentralasiatischer Gebirge, zu Fossilien im Permafrostboden und zur Entdeckungsgeschichte des amerikanischen Kontinents. Daneben veröffentlichte er bedeutende biographische Zeugnisse, unter anderem einen Nachruf auf seinen Bruder Wilhelm. Die Arbeit ist als ‚Publikationsbiographie‘ konzipiert. Sie vollzieht Humboldts intellektuelle Entwicklung – sein Denken, Schreiben, Arbeiten und Publizieren – auf der Grundlage seiner Schriften nach und kombiniert werk- und lebensgeschichtliche Untersuchungsinteressen. Als Methode dient der Einführungskommentar, ein Erschließungsinstrument der Editionsphilologie, das im ersten Teil der Arbeit theoretisch und praktisch reflektiert wird. Der Analyseteil der Arbeit besteht entsprechend aus je einem Kapitel zu jeder der 45 Schriften zwischen 1830 und 1835. Diese Kommentar-Essays liefern die zum Verständnis und zur Einordnung von Humboldts Schriften erforderlichen Informationen. Sie enthalten bibliographische und textkritische Angaben zur Druckgeschichte, zur Autorisation und zu Fassungsunterschieden. Sie erläutern Entstehungs- und Publikationszusammenhänge, ordnen die Aufsätze und Artikel wissenschaftshistorisch in Adressatenkreise, Debatten- und Diskursfelder ein und deuten sie rhetorisch, stilistisch und poetologisch. Sie stellen die wichtigsten Inhalte und Erkenntnisse der Schriften dar und knüpfen thematische Verbindungen zu Humboldts anderen Werkgruppen (Monographien, graphische und unveröffentlichte Werke) und -phasen (Jugend-, Amerika-, Russland- und Spätwerk). Wo möglich, beziehen sie außerdem Entwurfsmanuskripte aus Humboldts Nachlass und Bildwerke ein, die Humboldts Texte illustrieren oder die er beschreibt. In den allermeisten Fällen stellen die Kommentare dieser Arbeit die ersten Forschungsbeiträge überhaupt zu Humboldts wenig untersuchten Schriften dar. Sie vervollständigen die Kenntnis seiner Werkbiographie und eröffnen neue Perspektiven auf einen bisher kaum bekannten Humboldt, zum Beispiel auf seine sinologischen und seine paläontologischen Beiträge, auf seine Anteilnahme an geographischen Entdeckungs- und Vermessungsprojekten seiner Zeit (Nordwestpassage und Südpolarmeer, Baltikum und Gobi), auf das Ausmaß und die Vernetzung seiner erdmagnetischen Messungen sowie auf seine publizistischen Strategien, etwa die Anonymisierung und vorgetäuschte Fragmenthaftigkeit seiner Zeitungsartikel. Nicht zuletzt belegt diese Studie die Aktualität von Humboldts Publizistik: Seine Artikel über Erdgasbohrungen leiten den Blick auf das ‚Fracking‘ der Gegenwart; seine Stellungnahme zur chinesischen Zensur erinnert an den Umgang mit Menschenrechten und Meinungsfreiheit im heutigen China; und seine Auseinandersetzung mit dem Schweizer Zoologen Louis Agassiz führt zur aktuellen Debatte um dessen rassistische Schriften und die Umbenennung des ‚Agassizhorns‘ in den Berner Alpen.