Bildungswunsch und Wirklichkeit. Thematischer Bericht der Erhebung PISA 2000

Meyer, Thomas; Stalder, Barbara E.; Matter, Monika (2003). Bildungswunsch und Wirklichkeit. Thematischer Bericht der Erhebung PISA 2000 (Bildungsmonitoring Schweiz). Neuchâtel: Bundesamt für Statistik

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Ausbildungsabsichten
Von den rund 65'000 9.-Klässler/innen, die im Sommer 2000 aus Regelklassen der öffentlichen Schule entlassen wurden, hatten im Frühling 2000 95% konkrete Pläne, was ihre weiterführende nachobligatorische Ausbildung betrifft. Knapp die Hälfte (46% oder rund 30'000 Jugendliche) sahen eine Berufsausbildung vor, knapp 30 Prozent oder rund 19'000 eine allgemein bildende Schule (Gymnasium, Diplommittelschule u.ä.). Rund 20 Prozent (13'000) beabsichtigten, nach Schulaustritt eine Zwischenlösung einzuschalten. Nur knapp 5% wussten noch nicht genau, was sie nach Entlassung aus der Schulpflicht machen werden, oder planten die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit.
Der Eintritt in eine weiter führende nachobligatorische Ausbildung ist in den vergangenen Jahrzehnten zur sozialen Norm geworden. Die obigen Zahlen zeigen, dass der allergrösste Teil der Schulabgängerinnen und -abgänger dieser Norm zu entsprechen trachtet. Die Ergebnisse dieses Berichts legen allerdings nahe, dass für rund ein Drittel der schulentlassenen Jugendlichen der Übertritt in eine mehrjährige, qualifizierende Ausbildung auf Sekundarstufe II mit mit erheblichen Unsicherheiten verbunden ist. Es betrifft dies einerseits die Jugendlichen, welche eine Zwischenlösung vorsehen oder noch nicht wissen, was sie machen werden. Anderseits ist unter denjenigen, welche den direkten Übertritt in eine nachobligatorische Berufs- oder Allgemeinbildung planen, kurz vor Schulaustritt eine bedeutende Minderheit noch nicht sicher, ob sie die beabsichtigte Ausbildung auch tatsächlich aufnehmen kann.
Zugangschancen zu bestimmten nachobligatorischen Ausbildungen
Als Faktoren, welche den Zugang zu einer bestimmten nachobligatorischen Ausbildung beeinflussen, wurden für den Bericht "Bildungswunsch und Wirklichkeit" das Geschlecht, die soziale Herkunft (Schicht), die Fremdsprachigkeit, die durch PISA gemessene Lesekompetenz, der auf Sekundarstufe I besuchte Schultyp, die Sprachregion und der Urbanisierungsgrad des Wohn- bzw. Schulorts in die Analyse einbezogen.

ALLGEMEIN BILDENDE SCHULEN
Die Chancenstruktur für den Übertritt in eine allgemein bildende Schule (Gymnasium oder Diplommittelschule) ist ausserordentlich stark vom Schultyp dominiert, der auf Sekundarstufe I besucht wurde: Schülerinnen und Schüler, welche vor Schulaustritt einen Schultyp mit erweiterten Anforderungen (Sekundar- bzw. Progymnasialtyp) besucht haben, haben unabhängig von allen anderen untersuchten Merkmalen eine fast 20 mal grössere Chance als solche aus Schulen mit Grundanforderungen (Real-Typus), ein Gymnasium oder eine Diplommittelschule zu besuchen. Das mag auf den ersten Blick trivial erscheinen, ist doch der Besuch einer Sekundarschule bzw. eines Progymnasiums in Kantonen mit gegliederten Oberstufen zwingende formale Voraussetzung für den Zutritt zu weiter führenden allgemein bildenden Schulen. Der Befund ist dann alles andere als trivial, wenn man in Rechnung stellt, dass auch unter den Realschülerinnen und -schülern mehr als ein Fünftel mindestens PISA-Lesekompetenzstufe 3 erreicht. Während Sekundar- und Progymnasialschüler/innen mit Kompetenzniveau 3 und darüber zu über 50 Prozent in ein Gymnasium oder eine Diplommittelschule übertreten, bleibt diese Option Realschüler/innen mit vergleichbaren Leistungsvoraussetzungen fast gänzlich verwehrt.
In der Chancenstruktur des Übertritts in eine weiter führende allgemein bildende Schule spiegeln sich auch massive regionale Unterschiede des Angebots an Ausbildungsplätzen der Sekundarstufe II. So haben Westschweizer Jugendliche im Vergleich zu deutschschweizerischen (unter sonst gleichen Bedingungen) statistisch gesehen eine mehr als drei mal so hohe Chance, in ein Gymnasium oder eine Diplommittelschule überzutreten, und Jugendliche aus städtischen Gebieten eine doppelt so hohe wie Jugendliche vom Land.
Einen bedeutsamen Einfluss auf die Übertrittschance in eine allgemein bildende Schule haben auch die soziale Herkunft und das Geschlecht: Jugendliche aus höheren sozialen Schichten bzw. Frauen haben (unter sonst gleichen Bedingungen) eine rund doppelt so hohe Chance wie Jugendliche aus tieferen Schichten bzw. Männer.
Die durch PISA gemessene Lesekompetenz schliesslich ist zwar statistisch keineswegs unerheblich für die Chance, in eine weiterführende allgemein bildende Schule übertreten zu können. Für Jugendliche mit einem hohen Kompetenzniveau erhöht sich diese um annähernd Faktor 3. Gemessen am Gesamteinfluss aller übrigen Merkmale, die ins Erklärungsmodell einbezogen wurden, spielt jedoch die Lesekompetenz insgesamt eine eher untergeordnete Rolle.
Vor dem Hintergrund eines Bildungssystems, das den Anspruch erhebt, leistungsbasiert ("meritokratisch") und verteilungsgerecht zu sein, ist dieser Befund höchst bedenklich. Er belegt massive Chancenungleichheiten bezüglich des Zugangs zum "Königsweg" der nachobligatorischen Ausbildung, dem Gymnasium.

BERUFSAUSBILDUNG
Das Profil für angehende Lehrlinge bzw. Berufsschüler/innen verhält sich gewissermassen spiegelbildlich zu demjenigen für angehende Maturand/innen und Diplommittelschüler/innen. Der "Prototyp" des angehenden Lehrlings ist deutlich häufiger männlich als weiblich und stammt eher aus niedrigeren sozialen Schichten als aus höheren. Er ist häufiger Real- als Sekundar-/Progymnasialschüler, wohnt eher in der Deutschschweiz und eher auf dem Lande. Die Lesekompetenz als Leistungsmerkmal hat unter Kontrolle aller anderen modellrelevanten Merkmale fast keinen Einfluss auf die Chance, eine Berufsausbildung zu ergreifen.

Berücksichtigt man zusätzlich das intellektuelle Anforderungsniveau der Berufsausbildung, so zeigt sich wiederum der dominierende Einfluss des Schultyps. Sekundarschüler/innen und Progymnasiast/innen haben bei gleicher Leistung eine gegenüber Realschüler/innen deutlich erhöhte Chance, eine anspruchsvollere Berufsausbildung anfangen zu können. Der Einfluss des Schultyps auf das Anspruchsniveau der voraussichtlichen Berufsausbildung ist rund doppelt so stark wie derjenige der Lesekompetenz. Obwohl der auf Sekundarstufe I besuchte Schultyp in der Berufsausbildung formal keine Bedeutung hat, sehen sich insbesondere leistungsstarke Realschülerinnen und -schüler mit massiven Benachteiligungen konfrontiert. Gleiches gilt - wenn auch in etwas geringerem Ausmass - für Fremdsprachige.

Item Type:

Report (Report)

Division/Institute:

03 Faculty of Business, Economics and Social Sciences > Social Sciences > Institute of Sociology

UniBE Contributor:

Meyer, Thomas (A), Igic, Ivana (B), Matter, Monika (B)

Subjects:

300 Social sciences, sociology & anthropology

ISBN:

3-303- 15292-6

Series:

Bildungsmonitoring Schweiz

Publisher:

Bundesamt für Statistik

Projects:

[1036] Transitions from Education to Employment (TREE) Official URL

Language:

German

Submitter:

Thomas Meyer

Date Deposited:

22 Oct 2019 14:48

Last Modified:

29 Mar 2023 23:36

Related URLs:

URI:

https://boris.unibe.ch/id/eprint/131005

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