Die Geographie des Ptolemaios im Strudel der Turns: Zu Risiken und (Neben)wirkungen interdisziplinären Forschens

Burri, Renate Marianne; Defaux, Olivier (5 May 2019). Die Geographie des Ptolemaios im Strudel der Turns: Zu Risiken und (Neben)wirkungen interdisziplinären Forschens (Unpublished). In: 35. Große Mommsen-Tagung „Die Altertumswissenschaften und die Cultural Turns: Forschungen zur Klassischen Antike im (inter)disziplinären Dialog“. Freie Universität, Berlin. 05.05.2019.

Wer sich mit antiken naturwissenschaftlichen Werken befasst, begibt sich automatisch in interdisziplinäre Gefilde. Diese Erfahrung haben die Klassische Philologin Renate Burri und der Althistoriker Olivier Defaux in ihren Doktorarbeiten zur Geographie des Klaudios Ptolemaios gemacht. Das Werk selbst, um 150 n.Chr. in Alexandria verfasst, läutete eine methodische Wende in der Geo- und Kartographie ein hin zur wissenschaftlichen Repräsentation der Erde (und weg von deren deskriptiver Darstellung) – ein Trend, der bis heute andauert.

Nach der Mitwirkung an einer neuen Edition der ptolemäischen Geographie kam Renate Burri zum Schluss, dass im Fall dieses Werkes die klassische textkritische Methode an ihre Grenzen stößt: Die Geographie, ein vorwiegend aus Namen und Zahlen bestehendes Werk, das außerdem graphische Elemente enthält, war anderen Mechanismen und Problemen der Überlieferung unterworfen als ein herkömmlicher Prosatext. Deshalb nahm Renate Burri in ihrer Doktorarbeit zu den griechischen Handschriften der Geographie des Ptolemaios im Sinne des material turn und in Anlehnung an die New Philology (aber auch in Abgrenzung zu ihr) die einzelnen Textzeugen dieses Werkes näher unter die Lupe. Das Studium der einzelnen Handschriften, die Rekonstruktion ihrer ,Biographie‘ und die Berücksichtigung der Diagramme in der Geographie haben Erstaunliches zum Vorschein gebracht, das mit traditionellem Kollationieren unerkannt geblieben war.

Während der Arbeit an seiner 2017 veröffentlichten Dissertation zur Iberischen Halbinsel bei Ptolemaios stellte Olivier Defaux fest, dass der allgegenwärtige digital turn die Geographie des Ptolemaios mit ihren Tausenden von Koordinatenangaben auch für Forschende interessant macht, die über keine philologischen oder althistorischen Kenntnisse verfügen. Allerdings betrachten interessierte Mathematiker*innen, Programmierer*innen, Geograph*innen, ja selbst Wissenschaftshistoriker*innen, deren Forschung sich bisher auf die Moderne beschränkte, den Ortskatalog der ptolemäischen Geographie oder die handschriftlichen Karten des Ptolemaios nicht selten aus einer rein quantitativen, computer-orientierten Perspektive und gehen mit diesen Elementen um wie mit einer Datenbank, ohne ihre Genese zu bedenken. Dieses Ausblenden der eigentlich notwendigen interdisziplinären Perspektive auf das Forschungsobjekt kann zu verzerrten Forschungsergebnissen oder gar zum Scheitern eines Forschungsvorhabens führen.

Vom digital turn und der damit einhergehenden Digitalisierung von Handschriften konnte die 2013 publizierte Arbeit von Renate Burri noch kaum profitieren. Während damals erst vereinzelt Handschriften im Internet zur Verfügung standen, hat sich die Situation in den letzten ca. sechs Jahren radikal geändert. Dennoch argumentiert Renate Burri, dass der digital turn die Konsultation des Originals für jede Art von handschriftenkundlichen Fragen nie erübrigt. Genauso wenig wird sich durch den digital turn die Editionsphilologie erübrigen.
Olivier Defaux sieht im digital turn viel Potenzial für die Alte Geschichte und die Wissenschaftsgeschichte. Gewisse Arbeitsschritte gewinnen durch digitale Ressourcen oder Anwendungen an Effizienz oder werden dadurch erleichtert. Neuartige Visualisierungen oder Berechnungen von Daten werden möglich. Bestimmte Forschungsergebnisse wie geographische Karten oder interaktive Forschungstools, die sich nicht oder schlecht für den Druck eignen, können online publiziert werden. Gerade für das Feld der mathematischen Geographie sind dies allesamt hilfreiche und interessante Optionen. Allerdings ist Olivier Defaux überzeugt, dass die Werke des Ptolemaios auch im Zeitalter der digital bzw. com-putational humanities nicht erfolgreich untersucht werden können, wenn dabei die philologische und historische Seite vernachlässigt oder gar aus den Augen verloren wird.

Item Type:

Conference or Workshop Item (Speech)

Division/Institute:

06 Faculty of Humanities > Other Institutions > Walter Benjamin Kolleg (WBKolleg) > Center for Global Studies (CGS)

UniBE Contributor:

Burri, Renate Marianne

Subjects:

000 Computer science, knowledge & systems > 090 Manuscripts & rare books
400 Language > 480 Classical & modern Greek languages
500 Science > 510 Mathematics
800 Literature, rhetoric & criticism > 880 Classical & modern Greek literatures
900 History > 930 History of ancient world (to ca. 499)
900 History > 940 History of Europe

Language:

German

Submitter:

Renate Marianne Burri

Date Deposited:

16 Jul 2021 11:51

Last Modified:

05 Dec 2022 15:50

URI:

https://boris.unibe.ch/id/eprint/155499

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