Pheiff, Jeffrey Alan; Steiner, Carina Laura; Leemann, Adrian Martin; Jeszenszky, Péter (June 2023). Yes, a structural dialectology is possible. Zur Sprachdynamik der Genuskongruenz beim Zahlwort zwei in den schweizerdeutschen Dialekten. (Unpublished). In: La catégorie du nombre : langues romanes, langues germaniques Diachronie, synchronie, typologie, dialectologie, épistémologie, terminologie. Paris. 07.–10.06.2023.
Gegenstand der vorliegenden Studie ist die Genuskongruenz der Zahlwörter in den Dialekten der Deutschschweiz. Untersucht wird das Kongruenzverhalten in Bezug auf die Merkmalsklasse Genus bei der Kardinalzahl (Hurford 2002: 628–629 folgend) zwei in attributiver Stellung im Nominativ-/Akkusativkasus. In älteren Sprachstufen des Deutschen war die Genusdistinktion bis ins Frühneuhochdeutsche bzw. ins Mittelniederdeutsche hinein möglich. Im Neuhochdeutschen wurden die Kongruenzformen zugunsten der historisch neutralen Einheitsform zwei aufgegeben (vgl. Stulz 1902: 105–106). Im Vergleich zur Standardvarietät, in der das Numerale zwei sich nach Kasus flektieren lässt (z. B. zweien, zweier), kann das Zahlwort nach wie vor in dialektalen Varietäten nach Genus flektiert werden (z. B. Dal Negro 2013, Schwarz 2014). Die Untersuchung der Genuskongruenz bei der Kardinalzahl zwei stellt insofern ein flexionsmorphologisches Desideratum dar, als “[c]ardinal number inflection is an interesting example of a linguistic domain in which dialects exhibit a higher degree of complexity than the standard languages” (Dal Negro 2013: 70).
Das Phänomen hat bislang wenig Aufmerksamkeit auf sich gezogen (Dal Negro 2013, Drenda 1986, Mayer & Schwalm 2017, Pheiff 2022, Schwarz 2014, Wolfensberger 1967). Die Untersuchungen betreffen v. a. das Zahlwort zwei und behandeln i. d. R. Teilräume des Deutschen. Mit Pheiff (2022) liegt erstmals eine Darstellung des Phänomens des gesamten deutschsprachigen Raums in Form einer Auswertung von Dialektgrammatiken vor. Die Faktoren “Generationszugehörigkeit” (z. B. Drenda 1986, Wolfensberger 1967), “Mobilität” (Drenda 1986, Wolfensberger 1967) und “Abfragemethode” (Meyer & Schwalm 2017) haben sich als variationssteuernd herausgestellt. Drenda (1986) zufolge haben etwa die Faktoren “syntaktische Funktion” und “Geschlecht” keinen Einfluss.
Um jüngere Tendenzen in der Genuskongruenz diatopisch und diachron zu untersuchen, wurden Daten des Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS) aus der Mitte des 20. Jahrhunderts mit aktuellen Daten zweier Alterskohorten aus dem Projekt Swiss German Dialects Across Time and Space (SDATS, Leemann et al. 2022) verglichen. Im SDATS-Projekt wurden zwischen 2020 und 2021 Dialektbefragungen mit insgesamt 1000 Gewährspersonen zweier Alterskohorten aus 125 Ortschaften der Deutschschweiz durchgeführt, d. h. acht Personen pro Ort, jeweils vier jüngere zwischen 20–35 und vier ältere zwischen 60–80 Jahren. Die Ortschaften entsprechen dabei einer repräsentativen Teilstichprobe der ehemaligen SDS-Befragungsorte (vgl. Jeszenszky et al. 2021), wodurch sowohl Sprachwandel in apparent time (wie bereits bei Drenda 1986, Wolfensberger 1967) als auch in real time untersucht werden kann. Aufgrund der umfangreichen Metadaten im SDATS-Korpus werden zudem in den aktuellen Daten umfangreiche Analysen zu aussersprachlichen Einflüssen auf den prognostizierten Kongruenzabbau ermöglicht.
Konkret stehen bei der vorliegenden Studie folgende drei Fragestellungen im Zentrum:
Diatopische Bestandsaufnahme: Wo ist die Genuskongruenz in den Dialekten der Deutschschweiz gemäss SDATS-Korpus verankert?
Wandel: Welche Wandeltendenzen zeigen sich beim Vergleich der jüngeren Sprachdaten des SDATS-Korpus mit den SDS-Erhebungen?
Erklärung: Welche inner- und aussersprachlichen Faktoren erklären den Abbau der Genuskongruenz in den Dialekten der Deutschschweiz?
Karten 1–3 visualisieren einem Systemvergleich zwischen SDS, SDATS-ältere und SDATS-jüngere Kohorte in Bezug auf die verwendete Form des Zahlworts bei menschlichen/belebten Referenten im Nominativ-/Akkusativkasus basierend auf Übersetzungsaufgaben (2 Männer, 2 Frauen und 2 Kinder). Diese Flächenkarten zeigen die jeweils lokal dominierende(n) Variante(n), wobei die Stärke der Dominanz durch Transparenz angezeigt wird: Vollfarben deuten auf ein ausschliessliches Vorkommen der entsprechenden Variante, eine Abnahme der Deckungskraft suggeriert das Vorkommen weiterer Varianten und Streifen zeigen an, dass im entsprechenden Gebiet zwei Varianten gleich häufig dokumentiert wurden.
Diese ersten Resultate scheinen Ergebnisse basierend auf älteren Daten aus Dialektgrammatiken grundsätzlich zu bestätigen und zeigen einen diachronen Abbau von der Peripherie des Landes hin zum Zentrum: Nach Auskunft einer Auswertung von Dialektgrammatiken herrschte die Einförmigkeit bereits vor 1915 bzw. 1930 im Graubünden vor (z. B. Meinherz 1920, Hotzenköcherle 1930). Während die Einförmigkeit um die 1950er Jahre primär im Wallis und im Graubünden, daneben vereinzelt an nördlichen und westlichen Grenzorten dokumentiert wurde, nimmt diese bei der älteren SDATS-Kohorte vor allem im Nordosten bereits mehr Raum ein und setzt sich bei der aktuell jüngeren Generation abgesehen vom Raum Bern, Freiburg und Zentralschweiz als Hauptvariante durch. Weiter suggerieren die kartierten Verläufe, dass die Dreiförmigkeit auch ohne Umweg über ein Zweiersystem direkt hin zur Einheitsform abgebaut werden kann (vgl. auch Drenda 1986, Pheiff 2022). In Bezug auf das Zweiersystem selbst, das gerade in gewissen Gebieten der Zentralschweiz noch stabil erscheint, sind die bisherigen Resultate jedoch mit Vorsicht zu geniessen: Vor allem die rosa eingefärbte Zweiförmigkeit in anderer Verteilung (z. B. maskuline und neutrale Form identisch, feminine abweichend) wird vermutlich nicht systematisch produziert, sondern ist auf phonetische Variation zurückzuführen. Dieser Aspekt wird Gegenstand von weiteren Analysen unter Einbezug einer Reihe von unbelebten Referenten im Nominativ-/Akkusativkasus sein. Daneben sind Analysen zu aussersprachlichen Einflussfaktoren auf die Genuskongruenz geplant (z. B. Mobilität, affektive und Persönlichkeitsfaktoren), deren Ergebnisse an der Konferenz im Juni präsentiert und diskutiert werden können.
Literatur
Dal Negro, Silvia (2013): The variation of gender agreement on numerals in the Alpine Space. In: Peter Auer, Javier Caro Reina & Göz Kaufmann (eds.): Language Variation. European Perspectives IV. Selected Papers from the Sixth International Conference on Language Variation in Europe (ICLaVE6), Freiburg, June 2011. Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins Publishing Company, 69−82. (Studies in Language Variation. 14).
Drenda, Georg (1986): Zur Variation der Genusdifferenzierung beim Numerale zwei. In: Günther Bellmann, Wolfgang Kleiber & Herbert Schwedt (eds.): Beiträge zur Dialektologie am Mittelrhein. Wiesbaden: Franz Steiner, 132–143. (Mainzer Studien zur Sprach- und Volksforschung. 10).
Hotzenköcherle, Rudolf (1934): Die Mundart von Mutten. Frauenfeld: Huber & Co. (Beiträge zur Schweizerdeutschen Grammatik. 19).
Jeszenszky, Péter, Steiner, Carina & Leemann, Adrian (2021): Reduction of Survey Sites in Dialectology: A New Methodology Based on Clustering. In: Frontiers in Artificial Intelligence, 4. (doi:10.3389/frai.2021.642505)
Leemann, Adrian, Jeszenszky, Péter, Steiner, Carina, Studerus, Melanie & Messerli, Jan (2022). SDATS Corpus – Swiss German Dialects Across Time and Space. URL: https://osf.io/s9z4q/
Meinherz, Paul (1920): Die Mundart der Bündner Herrschaft. Frauenfeld: Huber & Co. (Beiträge zur Schweizerdeutschen Grammatik. 13).
Meyer, Annabell & Johanna Schwalm (2017): Numerale zwei. In: SyHD-atlas. URL: https://syhd.info/apps/atlas/index.html#numerale-zwei [Stand: 11.10.2022].
Pheiff, Jeffrey (2022): Sprachwandel als Systemwandel. Zur Diatopie (und Diachronie) der Genuskongruenz bei der Kardinalzahl zwei in den Dialekten des Deutschen: Eine Auswertung von Dialektgrammatiken und Sprachatlanten. Vortrag. Forschungskolloquium Systemlinguistik. Bern. 06.04.2022.
Schwarz, Christian (2014): Entwicklungstendenzen der Genus-Kongruenz bei Zahlwörtern in den deutschen Dialekten. In: Pia Bergmann, Karin Birkner, Peter Gilles, Helmut Spiekermann & Tobias Streck (eds): Sprache im Gebrauch: räumlich, zeitlich, interaktional. Festschrift für Peter Auer. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 143–155. (OraLingua. 9).
SDS = Hotzenköcherle, Rudolf & Baumgartner, Heinrich & Schläpfer, Robert & Trüb, Rudolf & Zinsli, Paul. (1962–2003). Sprachatlas der deutschen Schweiz. Bern: Francke (Bände 1–6), Basel: Francke (Bände 7–8).
Stulz, Eugen (1902): Die Deklination des Zahlwortes zwei vom XV. bis XVIII Jahrhundert. In: Zeitschrift für Deutsche Wortforschung, 2, 85–117.
Wolfensberger, Heinz (1967): Mundartwandel im 20. Jahrhundert, dargestellt an Ausschnitten aus dem Sprachleben der Gemeinde Stäfä. Frauenfeld: Huber. (Beiträge zur schweizerdeutschen Mundartforschung. 14).