The Vulnerable Text. Verwundbarkeit als anthropologisches und textuelles Phänomen in Wolframs ›Parzival‹

Stolz, Michael (2020). The Vulnerable Text. Verwundbarkeit als anthropologisches und textuelles Phänomen in Wolframs ›Parzival‹. In: Bowden, Sarah; Miedema, Nine; Mossman, Stephen (eds.) Verletzungen und Unversehrtheit 
in der deutschen Literatur des Mittelalters. XXIV. Anglo-German Colloquium, Saarbrücken 2015 (pp. 279-299). Tübingen: Narr

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Intertextuality imposes vulnerability – unter diesem Motto entwickelt der Renaissance-Forscher Thomas M. Greene die These, dass Texte im Zuge von Prozessen der Übertragung und Aneignung ‚verwundbar’ werden (Thomas M. Greene, The vulnerable text, New York 1986). Die so verstandene ‚Verwundbarkeit’ sei insbesondere ein Symptom vormoderner Textualität, die Texte zumeist ‚aus zweiter Hand’ produziere und den Begriff der ‚Originalität’ noch nicht kenne: „Part of the text’s vulnerability lies in its dependence on second hand signifiers, a vulnerability aggravated in a culture which does not yet fetishize originality.“ Während Greenes Ansatz in der Altgermanistik bereits im Hinblick auf die zwischen der Eigengesetzlichkeit vormoderner Texte und deren philologischer Erschließung bestehende Spannung zur Anwendung gebracht und problematisiert wurde (so von Christian Kiening für den ›Ackermann‹: Schwierige Modernität, Tübingen 1998), harrt er in Bezug auf das Verständnis von Intertextualität noch der altgermanistischen Auseinandersetzung. Diese versucht der eingereichte Vorschlag mit einem Fallbeispiel in Gang zu bringen.
Als Textgrundlage werden Chrétiens ›Perceval ou le Conte du Graal‹ und dessen Aneignung durch Wolfram von Eschenbach gewählt, dies im Blick auf die Anfortas- und Sigune-Handlung (was es ermöglicht, den ›Titurel‹ mit einzubeziehen). Der Beitrag geht (im Anschluss an Jean Fourquet, Wolfram d’Eschenbach et le Conte del Graal, Paris 1938, 21966) davon aus, dass Wolfram die Bücher III bis VI des ›Parzival‹ (Jugendgeschichte bis zu Kundries Verfluchung wegen der unterlassenen Mitleidsfrage) nach einer handschriftlichen Vorlage des französischen Textes gestaltete, die ihm nach Abschluss dieses Teils abhanden kam. Für die Anfertigung der übrigen Bücher dürfte Wolfram eine anders geartete handschriftliche Vorlage zur Verfügung gehabt haben, was zur Überarbeitung eines bereits in Umlauf befindlichen deutschsprachigen Textes führte, die sich noch in Fassungsvarianten der Überlieferung wiederspiegelt. Aufgrund veränderter intertextueller Relationen wird also Wolframs eigener Text im Zuge der Redaktion ‚verwundbar’. Dieser Sachverhalt soll an Varianzen der Anfortas-Handlung aufgezeigt werden, wie sie insbesondere zwischen Buch V (Parzivals erster Besuch auf der Gralburg) und Buch IX (Parzivals Aufklärung durch den Einsiedler Trevrizent) fassbar werden. Der wunde Anfortas kann dabei auf Handlungsebene als Prototyp der Verletzbarkeit schlechthin gelten – einer Verletzbarkeit, die mit jener des Textes interagiert.
Mit in diese Perspektive einbezogen werden sollen Elemente der Sigune-Handlung. Der Vorlagenwechsel veranlasst Wolfram auch im Hinblick auf den Kampfestod von Sigunes Geliebtem Schionatulander (bei Chrétien sind beide Figuren namenlos) zu den erwähnten Adaptationen und hat wohl seinerseits die Entstehung des ›Titurel‹ motiviert, wo die Verletzbarkeit im Umgang mit textlichen ‚Vorlagen’ sogar thematisiert wird: Sigune zerschürft ihre Hände beim Versuch, das beschriftete Brackenseil zu behalten. Das Paradox der ›Titurel‹-Dichtung besteht dabei darin, dass die erwähnte Szene und die darin beschriebene Verwundbarkeit der Figur eine Vorlage thematisiert, die der Text selbst gerade nicht hat. Denn der ›Titurel‹ dürfte unabhängig von einer konkreten Quelle, wie sie Chrétiens ›Perceval‹ darstellt, entstanden sein und besitzt damit gerade jene ‚Originalität’, die Greene im Rahmen seines Konzepts von ‚vulnerabilty’ vormodernen Texten abspricht.

Item Type:

Book Section (Book Chapter)

Division/Institute:

06 Faculty of Humanities > Department of Linguistics and Literary Studies > Institute of Germanic Languages
06 Faculty of Humanities > Department of Linguistics and Literary Studies > Institute of Germanic Languages > Old German Language and Literature

UniBE Contributor:

Stolz, Michael

Subjects:

400 Language > 430 German & related languages
800 Literature, rhetoric & criticism > 830 German & related literatures

ISBN:

978-3-7720-8654-0

Publisher:

Narr

Funders:

[42] Schweizerischer Nationalfonds

Projects:

[911] Wolfram von Eschenbach, ›Parzival‹. Eine neue textkritische Ausgabe in elektronischer und gedruckter Form Official URL

Language:

German

Submitter:

Michael Rudolf Stolz

Date Deposited:

22 Jul 2020 08:05

Last Modified:

05 Dec 2022 15:39

URI:

https://boris.unibe.ch/id/eprint/145274

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